Rundfunk

Stimme des Ortes

Preiswert, einfach zu handhaben, robust und nah an den Bürgern – so einfach ist der Erfolg des Radios in Bolivien zu erklären. Besonders für die ländliche, großteils indigene Bevölkerung ist das Radio die erste und oft einzige Informationsquelle. Die Regierung Morales versucht, die ländlichen Radios zu stärken – aber nicht unbedingt ihre Unabhängigkeit.
Indigene Journalistin. Vierecke Indigene Journalistin.

Rosa Jalja zieht ihren Hut gerade, zupft ihren dunklen, schweren Rock zurecht und holt ihr Aufnahmegerät aus der Tasche – auf zum Interview. Die 60-Jährige leitet zwei Kommunalradios in ihrer Heimatstadt Copacabana am Titicacasee und sitzt jeden Tag am Mikrofon. Heute wird sie über Gewalt gegen Frauen berichten. Seit 44 Jahren macht die Bolivianerin aus dem Stamm der Aymara Radio für das Volk. Sie war 16, als ihre Stimme das erste Mal über den Äther lief. Schon bald hatte sie ein eigenes Programm: Über das Radio brachte sie der Dorf­bevölkerung ihre Sprache Aymara bei. „Das Radio muss die Menschen bilden!“, sagt sie bestimmt.


Das Radio hat gerade in den abgelegenen Gegenden des Andenstaats große Bedeutung. Bis heute sind die großen Medien Boliviens in den Städten konzentriert – La Paz, Santa Cruz, Cochabamba, Sucre und Oruro. In den kleinen Ortschaften gibt es keine Tageszeitung zu kaufen, und nur wenige können sich einen Fernsehanschluss leisten. Hinzu kommt, dass gerade auf dem Land noch immer viele Menschen nicht lesen können. Deshalb sind die Radios die Stimme des Ortes – und Menschen wie Rosa Jalja wahre Autoritäten. Fast überall ragt eine Antenne in die Höhe – gut 300 Kommunalradios gibt es in Bolivien. „Die Aymara und Quechua in unserem Land – das sind orale Kulturen“, erzählt Rosa. „Wir erzählen uns Geschichten, wir verbreiten das Wort, so lernen wir. Deswegen ist das Radio unser Medium.“ Die Radiomacher wollen mit ihrer Arbeit das Wort demokratisieren, um die Gesellschaft zu demokratisieren. Auch Rosa Jalja hat das verinnerlicht. Ihr Ziel war es, Frauen aus ihrer Kultur zu ermutigen, sich zu engagieren und zu emanzipieren.


Es begann mit Minenradios

Boliviens Kommunalradios haben ihre Anfänge Ende der 1940er-Jahre in den Minen im Altiplano. Radio Catavi, ein Minenradio in der Region Potosí, war 1949 das erste, gewerkschaftlich organisierte Radio, das seine Übertragung begann. Die Minenarbeiter wollten ihr eigenes Radio haben, denn über sie wurde in den traditionellen Medien der Stadt nur selten oder gar nicht berichtet. Sie nutzten das Medium, um sich mit anderen Minenarbeitern auszutauschen, um ihren gewerkschaftlichen Widerstand zu organisieren und gar als Waffe für ihren Kampf für die Unabhängigkeit vom diktatorischen Regime in dieser Zeit. In den nächsten 15 Jahren folgten viele dem Beispiel: Sie kauften sich das Equipment, bildeten ihre Mitarbeiter aus und begannen die Radioübertragung. Die Minenarbeiter und andere Familien des Ortes bezahlten jeweils einen kleinen Betrag pro Monat für den Betrieb des Senders.

Je nach politischer Lage übernahmen die Radios eine andere Funktion. In ruhigen Zeiten waren sie Stimme ihrer Ortschaft – sie informierten über Dorffeste, verbreiteten Nachrichten der örtlichen Politiker und funktionierten wie eine Poststelle für die Minenarbeiter: Durch die Radios blieben ganze Familien in Kontakt. In Krisenzeiten des Landes hatten die Minenradios ihre Sternstunden. Hier wurden sie zur einzigen validen Informationsquelle, unabhängig von den Informationen der nationalen Regierung. In den 80er-Jahren, als die meisten Minen Boliviens geschlossen wurden, verschwanden auch ihre Radios. Von einst 26 gibt es heute noch fünf.

Auch Freddy Calle hat seine Radiolaufbahn bei einem Minenradio begonnen. Schon als Schuljunge ging er bei Radio Huanuni, eines der größten Minenradios, auf Sendung. 14 Jahre blieb er dort – als Reporter, Moderator und später als Nachrichtenchef. 30 Jahre später ist Freddy Calle Dozent für Radio an der staatlichen Universität in Cochabamba und erfüllt sich gerade seinen Lebenstraum: In wenigen Wochen beginnt die Übertragung seines eigenen Radios. Das Studio wird noch ausgebaut, er feilt mit seinem Team am Programm – aber das Wichtigste: Er hat die Frequenz für seinen Sender in der Tasche. „Es war ein sehr anstrengender Prozess, der erst durch das neue Telekommunikationsgesetz für kleine Radios wie unseres möglich wurde“, erklärt Calle.

Dieses Gesetz hat die Regierung Morales 2011 verabschiedet. Vor seiner Einführung waren über 90 Prozent der Medien in privaten Händen. Mit dem Gesetz soll sich die Landschaft nun nach und nach verändern: 33 Prozent der Medien sollen demnach dem Staat gehören, 33 Prozent bleiben kommerziell. 17 Prozent des Kuchens gehen an soziale Kommunalradios und weitere 17 Prozent an Radios der indigenen Bevölkerung, der Bauern oder der afrobolivianischen Kommunen. Die regierende Partei MAS von Evo Morales nennt es das „Ende des medialen Großgrundbesitzes“. Kritiker werfen Morales einen Anschlag auf die Pressefreiheit vor. Sie sind gegen die Umverteilung an sich, bemängeln aber auch das Kontrollgremium – ATT –, das von der Regierung eingesetzt wurde, um die Frequenzen zu kontrollieren. Sie befürchten, dass die Sender versuchen werden, der Regierung zu gefallen.

Freddy Calle sieht das anders: „Für kleine kommunale Medien bedeutet es die Chance, ihren Platz in der Medienlandschaft Boliviens zu finden. Zuvor war die Meinungsfreiheit ein Privileg der Wohlhabenden, die sich ihr Medium gekauft haben.“ Für seine Frequenz hat Calle mehr als zwei Jahre gekämpft. Mehr als 20 soziale Organisationen musste er hinter sich versammeln, um die Genehmigung zu bekommen, darunter die Vereinigung der Minenarbeiter in Rente, die Gewerkschaft der Hausangestellten und die Vereinigung der Prostituierten. Das Gesetz verlangt von den Kommunalradios, dass sie durch möglichst viele Organisationen unterstützt werden und diesen eine Stimme gibt.


Neue Radios für indigene Dörfer

Seit 2006 fördert die Regierung die ländlichen Radios vor allem in den indigenen Dörfern massiv. 40 Radios de Pueblos Originarios – Radios der indigen Ortschaften – hat das Kommunikationsministerium im ganzen Land bereits installiert, in Kürze sollen 50 neue dazukommen. Das Equipment wird gestellt (ein Mischpult, ein Computer, Tisch, Stühle und ein Mikrofon), und ein Mitarbeiter des Radios bekommt einen kleinen, monatlichen Lohn. Die Räumlichkeiten stellt das Bürgermeisteramt zur Verfügung, so die Abmachung.

Eine wirklich unabhängige Berichterstattung ist in diesem Fall natürlich schwierig, zumal die Radios die nationalen Nachrichten des Staatssenders Patria Nueva übernehmen. Doch zuvor gab es in den meisten dieser Ortschaften gar kein Medium. Die Dörfer liegen oft mehrere Stunden von größeren Städten entfernt, die Straßen sind schlecht ausgebaut und teils unbefestigt. Die von der Regierung geförderten Radios liefern somit zum ersten Mal Informationen für die Dorfbewohner.

Ob bestehende Kommunalradios oder die neu geschaffenen Radios der indigenen Dörfer – nur die wenigsten Mitarbeiter verfügen über eine Ausbildung im Journalismus oder in Kommunikation. Viele der Radios sind Familienbetriebe. Die Kinder schauen von klein auf bei der Sendung zu und übernehmen sie später selbst.Um qualitativ hochwertige journalistische Inhalte zu schaffen, fehlt es vor allem am Geld. Rosa Jalja hat ihr Radio stets selbst finanziert – durch kleine Werbeinnahmen vom Maler aus dem Dorf, durch Hilfe von sozialen Organisationen, Alphabetisierungskampagnen oder durch selbst organisierte Märkte und Feste. „Reich wird man dadurch nicht“, erklärt sie.

Freddy Calle bastelt noch an der Finanzplanung für sein Radio. Eine kleine Firma hat er schon, die Internetstreaming und Content-Management-­Systeme für andere Sender anbietet. Er will sich aber noch nach neuen, alternativen Finanzquellen umsehen. „Wir brauchen Geld, um ein gutes Programm zu machen. Denn gegen die kommerziellen Sender werden wir uns nur behaupten können, wenn unser Programm besser ist als ihres.“ Sein Radio will sich den Themen der nach Cochabamba zugewanderten Menschen widmen. Nach dem letzten Zensus sind das mehr als 60 Prozent der Bevölkerung. Die allermeisten kommen aus den umliegenden Dörfern und suchen ein besseres Leben in der Stadt. „Unsere Aufgabe ist es, diesen Menschen eine Stimme zu geben“, sagt er.

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