Vorurteile

Mexikos verdeckter Rassismus

Offiziell gibt es keine Rassentrennung in Mexiko. Doch Mexikaner mit indigener oder afrikanischer Abstammung werden im Beruf, im Bildungs- und im Rechtssystem diskriminiert. „Mestizaje“, das Ideal einer ethnischen und kulturellen Durchmischung, verschleiert tief sitzende Vorurteile und systematische Diskriminierung.
Covid-19 trifft die indigene Bevölkerung besonders hart. Eyepix/picture-alliance/Cover Images Covid-19 trifft die indigene Bevölkerung besonders hart.

Ethnische Unterschiede existieren in Mexiko offiziell nicht. Nach der Revolu­tion Anfang des 20. Jahrhunderts wollte die Regierung eine gemeinsame mexikanische Identität schaffen. Sie verfolgte das Konzept von „Mestizaje“, der kulturellen und ethnischen Durchmischung. Alle Mexikaner wurden zu „Mestizios“, Menschen mit gemischter, europäischer, indigener, afrikanischer Herkunft. Mexikaner sollten zumindest in dieser Hinsicht eine große, glückliche Familie werden.

Doch der Begriff ist irreführend und täuscht über eine traumatische Kolonialvergangenheit hinweg (siehe meinen Beitrag im E+Z/D+C e-Paper 2017/11, Schwerpunkt). In der Realität ist die ethnische Identität tief verwurzelt und häufig Grund von Konflikten. Die Idee von Mestizaje sollte Ethnizität aus dem nationalen Bewusstsein löschen, verdeckt aber heute die Tatsache, dass Rassismus existiert.

Rassistische Zuschreibungen sind in der alltäglichen Kommunikation üblich. Die Begriffe „Indio“, „Negro“ und „Prieto“ (Dunkler) haben allesamt negative Konnotationen. Ihre Bedeutung ist so harsch, dass viele progressive Menschen sie nur in der Verkleinerungsform nutzen, um die Beleidigung abzuschwächen. Im Gegensatz dazu drücken „güero“ (hellhäutig) und die Verkleinerungsform „güerito“ Anerkennung aus und räumen Überlegenheit ein.

Der Rassismus in Mexiko geht weit über Worte hinaus. Im vergangenen Jahr veröffentlichte das Nationale Institut für Statistik und Geografie (Instituto Nacional de Estadística y Geografía – INEGI) den Nationalen Diskriminierungsbericht. Ausnahmsweise sammelt diese Studie rassenbezogene Daten. 24 Prozent der indigenen Bevölkerung haben demzufolge 2020 Diskriminierung erlebt, 75,6 Prozent fühlten sich nicht wertgeschätzt.

In der gleichen Erhebung drei Jahre zuvor gaben 49 Prozent der indigenen Bevölkerung an, dass ihre Rechte nicht respektiert wurden. Sie hatten schlechtere Jobperspektiven und eingeschränkten Zugang zu Sozialleistungen. Selbst medizinische Versorgung wurde ihnen oft verweigert. Das aber hat gefährliche Folgen insbesondere während einer Pandemie. Menschen, die kein Spanisch sprechen, haben oft nicht den gleichen Zugang zum Rechtssystem wie Spanischsprachige, und in vielen Grundschulen sind indigene Sprachen verboten.

Eine Studie der Vanderbilt-Universität in den USA bestätigt Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft in Mexiko. Das auf Umfragen beruhende Latin American Public Opinion Project zeigt, dass hellhäutige Mexikaner länger zur Schule gehen als solche mit dunklerer Haut: durchschnittlich 10 Jahre statt nur 6,5. Da Mexiko normalerweise keine rassenbezogenen Daten sammelt, kategorisierten die Vanderbilt-Demoskopen den Hautton der Befragten selbst auf einer 11-Punkte-Skala.

Im Gegensatz zum proklamierten Ideal spielt die ethnische Zugehörigkeit in Mexiko sehr wohl eine Rolle. Ein beacht­licher Teil der Mexikaner identifiziert sich mit einer ethnischen Gruppe. Studien zufolge sehen sich bis zu 60 Prozent als Mestizios, aber der Rest zählt sich zu Indigenen (30 Prozent), Weißen (neun Prozent) oder anderen Ethnien (ein Prozent). Laut Oxfam sind rund 70 Prozent der Indigenen arm, während es in der übrigen Bevölkerung 39 Prozent sind.


Hitzige Debatten

Die Kluft zwischen den Ethnien wurde zum Gegenstand nationaler Debatten, seit die Mitte-links Regierung von Andrés Manuel López Obrador 2018 ins Amt kam. Deren optimistische Aussagen zur Überwindung von wirtschaftlicher Ungleichheit und sozialer Spaltung bilden einen Widerspruch zum öffentlichen Diskurs in sozialen und nationalen Medien, in denen physisches Erscheinungsbild und ethnische Zugehörigkeit eine große Rolle spielen.

Ein Beispiel sind die heftigen Diskussionen über die Einhaltung von Covid-19-Beschränkungen. Hellhäutige Eliten waren bequem in der Lage, sich in geräumigen Häusern zu isolieren und im Homeoffice zu arbeiten, während ihre Kinder die nötige Technik hatten, um digitalem Unterricht zu folgen. Sie warfen ihren weniger begüterten Mitbürgern vor, die Regeln zu brechen, weil diese weiter arbeiten gingen und sogar ihre Kinder mitbrachten – Kinder, denen die Technik für Distanzunterricht fehlt.

Solche Debatten nehmen zu, als Folge von Aufrufen durch Politiker und Videos, die viral gehen. Beschimpfungen und Verleumdungen sind ein häufiger Bestandteil dieser Debatten. Beispielsweise erlangte der Begriff „Whitexican“ in den sozialen Medien Popularität. Er bezeichnet Privilegierte, die Gruppen verunglimpfen oder diskriminieren, die sie als unterlegen wahrnehmen. Ein Whitexican betrachtet ethnische Minoritäten in erster Linie als inkompetent und ungebildet. Selten sieht er in ihnen Opfer tief verwurzelter Ungerechtigkeit. Mancher, der sich dem Vorwurf ausgesetzt sieht, ein Whitexican zu sein, geht zum Gegenangriff über und betrachtet sich als Opfer eines umgekehrten Rassismus. Das zeigt, wie schwer Einstellungen zu überwinden sind.

Manch einer sieht in einer solchen Polarisierung eher Klassismus als Rassismus. Doch das stimmt nur zu einem gewissen Grad, denn Reichtum, Macht und helle Haut gehen in der Regel miteinander einher. Menschen mit dunklerem Erscheinungsbild wiederum leiden besonders unter organisierter Kriminalität und staatlichen Versuche, diese zu unterbinden. Der militarisierte Drogenkrieg hat regierungsunabhängigen Aktivisten zufolge seit 2006 bereits etwa 300 000 Menschen das Leben gekostet.

Besonders da, wo die Kartelle einen großen Teil des Landes kontrollieren, werden viele Menschen indigener oder afrikanischer Abstammung Wissenschaftlern zufolge:

  • gezwungen, beim Drogenanbau mitzuarbeiten,
  • (erneut) um ihr Land gebracht und
  • vertrieben.

Andererseits kommen die untersten Ränge der Armee, die das größte Risiko tragen, aus armen Familien.

Gleichzeitig erleben auch wirtschaftlich besser gestellte Mexikaner mit dunkler Haut Diskriminierung, weil vermögende Weiße sie nicht unbedingt als gleichrangig akzeptieren. Aus dem gleichen Grund werden Menschen in ethnischer Kleidung mitunter gebeten, hochpreisige Restaurants zu verlassen.

In öffentlichen Debatten reißt auch die Kluft zwischen Menschen mit indigenen und europäischen Wurzeln auf, sobald es ums koloniale Erbe geht. Vor einigen Monaten bat Präsident López Obrador die spanische Regierung, sich zum 400. Jahrestag der Einnahme und Zerstörung der aztekischen Hauptstadt Tenochtitlán am 13. August 1521 zu entschuldigen. Er betrachtete das als Akt symbolischer Wiedergutmachung für den historischen Schaden, den die indigene Bevölkerung davongetragen hatte. Doch Spanien lehnte kategorisch ab.

Der Vorfall sorgte für Aufregung in den sozialen Medien, mit beiderseitigen Tiraden. Indigene, die den Vorstoß des Präsidenten befürworteten, verwiesen auf andere Länder, die sich für historische Verbrechen entschuldigt hatten. Die Gegner des Präsidenten behaupteten, die spanische Kolonialisierung sei kein zerstörerischer, sondern ein zivilisierender Prozess gewesen. Viele von ihnen haben europäische Vorfahren und sahen den Vorstoß López Obradors als Affront gegen Spanien. Einige sagten sogar, er mache Mexiko auf internationaler Ebene lächerlich.

Der schädliche Einfluss des Rassismus zeigt sich nicht nur darin, dass einige gesellschaftliche Randgruppen selbst glauben, wenn dunkelhäutige Menschen es nicht schaffen, das koloniale Erbe zu überwinden, sei es ihre eigene Schuld. Rassismus beeinflusst das Denken in allen Schichten und schafft enorme Barrieren für den wirtschaftlichen Aufstieg eines großen Teils der Bevölkerung.

Mexikos Medien sind Teil des Problems. Indigene tauchen in den Sendungen höchstens als Angestellte wichtiger und erfolgreicher weißer Arbeitgeber auf. Mexikaner mit afrikanischen Vorfahren kommen ebenfalls kaum vor.


Integrationsdilemma

Das Gebiet des heutigen Mexiko war schon vor der Eroberung durch die Spanier im 16. Jahrhundert ethnisch divers. Erst die Konquistadoren begannen, die verschiedenen Ethnien wie eine undifferenzierte Masse zu behandeln. Gleiches taten sie mit Sklaven aus Afrika und Asien. Die Kolonialherren führten eine Hierarchie ein, die auf der Hautfarbe beruhte, mit Weißen an der Spitze.

Nach dem Unabhängigkeitskrieg zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde dieses Kastensystem offiziell abgeschafft. Doch die koloniale Gesinnung überlebte zumindest in Teilen. Interethnische Durchmischung war ungeachtet von Mestizaje weder ein universeller noch ein geschmeidiger Prozess. Er folgte auf eine Reihe von Neuordnungen, und er reagierte auf eine Reihe von Migrationsmustern in verschiedenen Teilen des Landes. Nationale Einheit ist ein erstrebenswertes Ziel – doch in Mexiko muss es Einheit in Vielfalt sein. Ethnische Unterschiede zu ignorieren führt nicht weiter.


Virginia Mercado ist Wissenschaftlerin an der Universidad Autónoma del Estado de México (UNAM) und Lehrkraft für Friedens- und Entwicklungsstudien.
virmercado@yahoo.com.mx

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