Flüchtlinge

Europas Dilemma

Ob die EU ein sicherer Hafen für Asylbewerber ist oder nicht, war Thema einer von der Evangelischen Akademie im Rheinland veranstalteten Konferenz. Die Redner waren sich einig, dass dem nicht so ist.

Pieter Stockmans vom Vluchtelingenwerk Vlaanderen, einer nicht staatlichen Organisation in Brüssel, nennt Geld als eine der größten Hürden für die Aufnahme von Asylbewerbern. Flüchtlingsunterkünfte sind teuer – viele Regierungen können oder wollen die Kosten nicht übernehmen. Angesichts knapper Haushalte nehmen Regierungen nur eine Mindestanzahl von Flüchtlingen auf und versuchen, weitere Asylanten abzuschrecken. Stockmans sagte, bei der Aufnahme von Flüchtlingen bewege sich Europa in einer „Abwärtsspirale“: Im Wettlauf gegen andere Mitglieder bemühe sich jedes Land, nur die gesetzliche Minimalhilfe zu leisten.

Laut der italienischen Flüchtlingsanwältin Franca Di Lecce beherbergt Italien derzeit jedes Jahr 55 000 neue Migranten. Die Hilfseinrichtungen für Asylbewerber seien allerdings nur für 3000 Menschen ausgelegt. Damit bediene die Regierung Fremdenfeindlichkeit. Als im Februar mehrere tausend Flüchtlinge aus Tunesien in Italien landeten und eine Debatte über sie in Europa entbrannte, erhob der Staat Italien Anspruch auf Hilfe. Regierungen anderer Länder hielten dagegen, dass eine große Nation wie Italien mit 60 Millionen Bürgern einem solchen, zeitlich absehbaren Ansturm durchaus gewachsen sei. Solche Fragen beherrschten die internationale Konferenz in Bonn. Die Experten waren sich einig, dass Europa keinen sicheren Hafen darstellt, und nannten EU-Vorschriften unter der Marke „Dublin II“ fatal. Den Vorschriften zufolge dürfen Flüchtlinge nur in dem EU-Land Asyl beantragen, in dem sie zuerst nach Europa kamen. Deshalb werden sie regelmäßig in solche Staaten abgeschoben, die bereits die höchste Last durch Einwanderung tragen. Viele Erstländer sind klein, weniger wohlhabend und wie Griechenland sowohl institutionell wie finanziell meist überfordert.

Etliche Konferenzteilnehmer wiesen auf den geringeren Lebensstandard von Flüchtlingen in kleinen EU-Staaten hin. Problematisch an der Dublin-II-Verordnung sei auch, dass die humane Behandlung von Flüchtlingen nicht garantiert ist. Die Abschiebung eines afghanischen Flüchtlings von Belgien nach Griechenland beschäftigte Ende Januar den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Die Zustände in Griechenlands Aufnahmelagern seien menschenunwürdig, urteilten die Richter. Belgien hätte das in Betracht ziehen müssen, bevor es den Mann abschob. Mangels anderer Mittel bringt Belgien viele Flüchtlinge in Hotels unter. Die hohen Kosten dieser Politik verführen dazu, Menschen so rasch wie möglich ab­zuschieben. Wo ein Land liegt, trägt entscheidend zu der Frage bei, wie es mit Flüchtlingen zurechtkommt. EU-Grenzstaaten wie Polen und Italien haben mehr Probleme als Belgien und Deutschland.

Laut Dawid Cegielka, einem Anwalt der nicht staatlichen Gesellschaft für Rechtsbeistand SIP in Warschau, hat Polen ähnliche Probleme wie Griechenland. Wegen gewalttätiger Konflikte in Post-­Sowjetstaaten flüchteten viele Menschen nach Polen – an seiner Ostgrenze gebe es 14 Auffanglager. Weitere Sorgen bereitet der Menschenhandel: Um die EU-Grenze zu passieren, zahlen viele Menschen Geld, und die Begleitumstände können lebensgefährlich werden. Auf dem Weg in die EU seien in den letzten 12 Jahren 55 000 Personen umgekommen, sagt Di Lecce.

Joseph Miller

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