Kriminalität

„Gangs als politische ­Entschuldigung“

An Gesichtern, Hälsen und Armen tätowierte junge Männer sind das Symbol für die Gewalt in Zentral­amerika: Zehntausende Jugendliche arbeiten für die Maras – für Gangs, die Drogenhandel, Schutzgelderpressung oder Überfälle organisieren und sich blutige Kriege untereinander und mit staatlichen Sicherheitskräften liefern. Die repressive Politik der „harten Hand“ hat die Gewalt bisher nicht eindämmen können, aber Experten sehen erste Lichtstrahlen am Ende des Tunnels.
Politik der harten Hand: inhaftierte Gang­mitglieder vor Gericht in Guatemala-Stadt. picture-alliance/dpa Politik der harten Hand: inhaftierte Gang­mitglieder vor Gericht in Guatemala-Stadt.

Das sogenannte „nördliche Dreieck“ aus El Salvador, Guatemala und Honduras ist eine der gefährlichsten Gegenden der Welt: Im Jahr 2015 lag die Mordrate in El Salvador bei 116 pro 100 000 Einwohnern, in Honduras und Guatemala sank sie leicht auf 60. Der globale Durchschnitt liegt bei 6,2. Mitverantwortlich für die Situation sind kriminelle Gangs, die ganze Territorien kontrollieren.

„Parteien nutzen die Gangs oft als politische Entschuldigung“, sagt José Luis Sanz von der auf Kriminalität spezialisierten investigativen Plattform „El Faro“ aus El Salvador auf einer Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin. Das verschleiere die „multikausalen Dynamiken“: Die hohen Mordraten seien nur die sichtbarste Folge von gesellschaftlichen Konflikten, deren Ursachen komplex und historisch gewachsen seien.

In Honduras, El Salvador und Guatemala haben extreme soziale Ungleichheit, schlechte Löhne und Steuerflucht, mangelnde staatliche Fürsorge und Durchsetzungskraft, fehlende Aufstiegschancen und massive Korruption dazu beigetragen, dass die Gangs ihren gesellschaftlichen Einfluss ausgebaut haben. Sie sind zu mächtigen Rivalen des Staates herangewachsen und haben die Sicherheitskräfte und die Justiz vielerorts bereits unterwandert. Immer wieder töten etwa korrupte Polizeieinheiten als Söldner für die Gangs.

„Die große Tragödie ist, dass die Gangs für viele Jugendliche und ärmere Menschen eine intelligente Option darstellen“, so Sanz. Gerade in ärmeren Vierteln müssten sich die Bewohner unter den Schutz einer lokalen Gang begeben, um nicht von Rivalen getötet zu werden.
Die einzige Antwort der Regierungen war jahrzehntelang staatliche Gewalt, was die Situation nur noch mehr angeheizt hat. „Die Politik der harten Hand („mano dura“) funktioniert nicht“, kritisiert Ana Glenda Tager von Interpeace aus Guatemala. „Die Konflikte zerstören den gesellschaftlichen Zusammenhalt, es herrscht ein grundsätzliches Misstrauen.“

Präventionsstrategien sind ebenfalls weitgehend wirkungslos geblieben, obwohl dafür Millionen Dollar aus US-amerikanischen Programmen bereitgestellt wurden. „Die politischen Parteien wollen an der Macht bleiben und setzen auf populistische Konzepte – das verhindert eine Politik, die wirklich Veränderung schaffen kann“, so Tager. Statt mit kriminellen Gruppen zu arbeiten und sie als Teil der Lösung zu begreifen, habe sich Prävention zu lange auf simple Rezepte wie Anti-Gewalt-Trainings für Schüler beschränkt – die danach nur wieder in ihre Realität zurückkehren: in die von Gangs kontrollierten Armenviertel.

Doch angesichts der anhaltend hohen Mordraten suchen die zentralamerikanischen Regierungen auch nach Lösungsansätzen jenseits der Hardliner-Politik. In El Salvador schlossen die großen Gangs 2012 einen Waffenstillstand und begannen, mit der Regierung zu verhandeln. Diese Gespräche zwischen Regierungen und kriminellen Organisationen sind umstritten, dennoch sieht Sanz keine Alternative dazu. Nur zusammen mit den Gangs könne man eine Lösung finden. „Seit den Verhandlungen wird viel detaillierter über Prävention, Gesetze und Strategien diskutiert“, so Sanz. Auch Projekte, die Häftlinge reintegrieren sollen, seien erstmals kein Tabu mehr. Bisher hätten Gefängnisse nur als „Mülleimer“ gegolten, in denen der Abschaum der Gesellschaft entsorgt werden sollte. Dadurch verwandelten sich die überbelegten Anstalten in Trainingscamps für die nächste kriminelle Generation.

Sicherheitsexpertin Tager betont die wichtige Rolle der Zivilgesellschaft: Für sie ist es ein „Licht am Ende des Tunnels“, dass die Bürger von Guatemala im vergangenen Jahr monatelang gegen die Korruption der Regierung und gegen Straflosigkeit auf die Straße gegangen sind. Der Kampf vereinte erstmals zuvor isolierte Parteien und Gruppen, weil Korruption sie alle betrifft. „Vielleicht kann das ein Anfang sein, um danach auch andere Themen gemeinsam anzugehen“, hofft Tager.

Sonja Peteranderl

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