Editorial

Service oder freie Entfaltung?

Als ich in Kalkutta Mitte der 1990er Jahre die Daten für meine Doktorarbeit erhob, war ich noch unverheiratet. Mehrere gute Bekannte – meist im Großmutter-Alter – boten an, mir ein „gutes bengalisches Mädchen“ zu finden. Liebesheiraten seien gut für manche Menschen, sagten sie, aber für andere seien arrangierte Ehen besser. Dass ich mit Mitte dreißig noch keine Frau gefunden hatte, zeigte, zu welcher Gruppe ich gehörte.
Junge Familie in Mosambik. Doering/Lineair Junge Familie in Mosambik.

Bei Ehen geht es um Liebe und viele andere wichtige Dinge. In allen Kulturen ist soziale Sicherung an Familien gebunden. Tradition und Gesetze bestimmen, wer welche Rechte und welche Pflichten hat. Es ist unsinnig, solche Regeln zu beurteilen, ohne den gesellschaftlichen Kontext zu betrachten. Was für Nomaden richtig ist, passt vermutlich nicht in eine Megastadt. Familien sind als Institutionen historischem Wandel unterlegen. Gesellschaften lernen. Was früher selbstverständlich war, kann heute obsolet sein. Traditionen wie Mitgift oder Brautpreis waren einmal nützlich, richten heute aber oft großes Leid an. Sie hatten den Zweck, Probleme zu mindern oder ihnen vorzubeugen, schaffen aber unter veränderten Umständen neue Probleme. Es ist nötig, aber nicht leicht, neue Normen zu finden, die den heutigen Bedürfnissen entsprechen.

Meine indischen Bekannten haben recht: In Südasien, wo Ehen meist arrangiert werden, gibt es in Familien nicht weniger Liebe als in westlichen Ländern, wo Partner selbst entscheiden, mit wem sie sich zusammentun. Hohe Scheidungsraten beweisen ja, dass das nicht immer gut geht. Ich habe viele indische Familien kennengelernt und weiß, dass viele arrangierte Ehen gute Ehen sind. Allerdings habe ich auch einige arg dysfunktionale Familien in Indien kennen gelernt.

In Kalkutta lebte ich in einem Studentenwohnheim und hatte viele junge Bekannte. Wie überall auf der Welt interessierten sich die jungen Männer und Frauen für Sex und Beziehungen. Einige kamen aus liberalen Familien und hatten Raum, persönliche Erfahrungen zu sammeln. Sie ähnelten in ihrem Verhalten europäischen Studenten. Andere stammten aber aus restriktiveren Familien und waren sehr unsicher, verwirrt und ängstlich. Ihnen waren Gefühle und Wünsche unheimlich, die in Europa als normal und natürlich gelten.

Eine junge Studentin sagte mir, sie verstehe gar nicht, warum sie unglücklich sei. Sie habe doch alles, was ein gutes bengalisches Mädchen brauche. Sie war hübsch, hatte gute Noten und klassischen Tanz erlernt. Sie listete noch viele andere Dinge auf, die sie glücklich machen sollten, und klagte, sie sei trotzdem deprimiert. Mir fiel auf, dass alle Punkte auf ihrer Liste darum kreisten, wie sie anderen Menschen gefallen könnte, aber nichts darüber sagten, was sie selbst im Leben erreichen wollte. Als ich sie darauf aufmerksam machte, fühlte sie sich tief im Innern verstanden und sagte, sie sei in mich verliebt. Ich hatte aber nicht tief in ihre Seele geschaut, sondern nur eine soziologische Einsicht gehabt.

Einige Zeit später schlug wieder eine ältere Dame vor, sie werde mir „ein gutes bengalisches Mädchen“ suchen, und führte ein neues Argument an. Ehen zwischen deutschen Männern und indischen Frauen liefen oft gut, sagte sie, denn die Frau fühle sich befreit und der Mann gut bedient. Mir war sofort klar, dass ich das nicht wollte. Ich finde, eine Ehe sollte kein Dienstleistungsverhältnis sein, sondern beiden Partnern Freiheit zur Entfaltung der Persönlichkeit bieten.


Hans Dembowski ist Chefredakteur von E+Z Entwicklung und Zusammenarbeit / D+C Development and Cooperation.
euz.editor@fs-medien.de

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