Gender

Die Wurzeln der Familie

Rechtlich sind Männer und Frauen in vielen Ländern Afrikas heute gleichberechtigt. Doch Recht und Realität klaffen oft weit auseinander – und das gilt selbst in Südafrika, das in vieler Hinsicht Vorreiter und Vorbild ist.
Afrikanische Frauen arbeiten in der Landwirtschaft und versorgen die Familie. kd Afrikanische Frauen arbeiten in der Landwirtschaft und versorgen die Familie.

2015 war Halbzeit für die afrikanische Frauendekade. Die AU hatte sie am 15. Oktober 2010 in der kenianischen Hauptstadt Nairobi ausgerufen – nicht zufällig am internationalen Tag der Landfrauen. Schließlich versorgt ein Großteil der afrikanischen Frauen als Kleinbäuerinnen sowohl die eigene Familie als auch die weitere Bevölkerung – und das, obwohl sie vielerorts immer noch kein Land besitzen. Umso wichtiger ist das Motto der AU-Frauendekade: Graswurzelansätze zu Geschlechtergleichheit und Frauenempowerment.

Der African Gender Equality Index 2015 der African Development Bank misst dem Landbesitz und der ländlichen Infrastruktur große Bedeutung bei. Nur 15 Prozent des Landes in Afrika gehört Frauen. Land sichert aber in wirtschaftlichen oder politischen Krisenzeiten die Existenz der Familie.

Einem Sinnspruch aus Simbabwe zufolge sind Frauen die Wurzeln der Familie. Allerdings sind ihre Möglichkeiten in dem krisengeschüttelten Land wegen des Machtmissbrauchs durch das herrschende Regime drastisch eingeschränkt. Die früheren antikolonialen Befreiungskämpferinnen müssen heute um US-Importmais in Form internationaler Nahrungsmittelhilfe betteln.

Manche Funktionäre zwingen Landbewohnerinnen zum Sex, bevor sie Hilfspakete erhalten. Dies zeigt die Kluft zwischen den Vorgaben der AU und der Realität in Simbabwe, dessen Langzeit-Präsident Robert Mugabe erst kürzlich das Amt des AU-Vorsitzenden bekleidete. Die afrikanische Frauen-, Familien- und Gender-Forschung belegt seit Jahren: Das Private ist politisch. Der Sammelband: „Under Development: Gender“ bietet viele lesenswerte Beispiele dazu (Verschuur/Guérin/Buétat-Bernard 2014).

Mütter- und Kindersterblichkeit sowie HIV/Aids belasten Frauen und ihre Familien. Hinzu kommen Mangelernährung und unzureichende Gesundheitsversorgung. In etlichen Nachkriegsgesellschaften und mangelhaft ausgestatteten Flüchtlingslagern etwa in Uganda oder Kenia sind medizinische Versorgung und Nahrung sinnbildlich unerreichbar. Interessante Erkenntnisse solch menschenrechtsbasierter Forschung bietet das Team um Anne Bellows (Bellows/Valente et al. 2015).

Mehr als 12 Millionen HIV/Aids-Waisen müssen in Afrika versorgt werden. Die Lage wäre weit weniger dramatisch, wenn Schwangere in ausreichendem Maße antiretrovirale Medikamente zur Vermeidung von Mutter-Kind-Übertragungen erhalten hätten oder umfassende HIV-Präventionsprogramme auch für Männer durchgeführt worden wären. Das hätte aber hohe Investitionen und strikte Korruptionsbekämpfung bei der Nutzung internationaler HIV/Aids-Fonds vorausgesetzt. Welche Rolle die reproduktive Gesundheit von Männern auch politisch spielt, zeigen unter anderem Cornwall et al. und Freedman (Cornwall/Edström/Greig 2011; Freedman 2013).

Kampagnen hätten Männern klar­machen können: HIV ist kein Potenzbeweis, und Aids ist auch für sie tödlich. Erst allmählich setzt sich diese Erkenntnis durch. Vor allem in Ländern wie Malawi oder Südafrika, in denen religiöse oder politisch-ideologische Dogmen lange die Gesundheitspolitik prägten, gibt es hohe HIV-Raten. In etlichen Dörfern übernehmen Teenager Elternrollen und familiäre Verantwortung und versorgen teilweise auch noch gebrechliche Großeltern.

Besonders dramatisch war die Situation von Frauen und Kindern in den von Südafrikas Apartheidregime eingerichteten „Homelands“, landwirtschaftlich nutzlosen und infrastrukturell systematisch vernachlässigten Regionen. Mitte der 1980er Jahre war hier die Unter- und Mangelernährung von Kindern so hoch wie sonst nur in Kriegsländern. Gleichzeitig investierten auch damals schon etliche ausländische Unternehmen in Südafrika – ungeachtet der UN-Sanktionen, die Apartheid als Menschenrechtsverbrechen verurteilten.

Kein ausländisches und nur ein einziges südafrikanisches Unternehmen wurde bislang dafür zur Rechenschaft gezogen, dass Angestellte durch die Betriebstätigkeit, insbesondere in schlecht gesicherten Minen, schwer erkrankten oder starben und zahlreiche Männer arbeitsunfähig wurden. Ehefrauen und Töchter trugen die Last der Pflege und Versorgung. Viele Familien erhielten nicht einmal eine Kompensation für Arbeitsunfälle. Heute muss der Staat mit Invalidenrenten die verarmten Schwerkranken, die Witwen und ihre Familien versorgen.

Aktuelle familiäre Probleme haben historische und wirtschaftspolitische Gründe, wie südafrikanische Gender-Forscher unterstreichen (van den Berg 2015). Häusliche Gewalt sowie Teenager-Schwangerschaften lassen sich nicht allein durch Traumaarbeit für Gewaltopfer bewältigen, notwendig sind umfassende präventive Maßnahmen. Gerade weil Südafrika nach 1994 Geschlechtergerechtigkeit und Gewaltschutz zum Verfassungsauftrag erhoben hat, ist eine Auseinandersetzung mit den vorbildlichen Gesetzesgrundlagen und Ansätzen zur familiären Gewaltprävention aufschlussreich.

Das 2000 verabschiedete Gleichheitsgesetz und die Gleichstellungspolitik entsprechen internationalen Abkommen und Vereinbarungen der AU. Das traditionelle Recht wurde dem staatlichen untergeordnet, vor dem Gesetz sind alle Frauen heute gleichberichtigt. Das betrifft auch alle Ehefrauen, die nach traditionellem Recht verheiratet wurden.

Zwar gab es 2012 einen Vorstoß von neotraditionalistischen Kreisen in der Regierungspartei, diese Gleichheitsgrundlagen aufzuweichen, doch ein starkes Bündnis zivilgesellschaftlicher Gruppen verhinderte das Vorhaben. Nicht nur Millionen traditionell verheirateter Frauen, auch Homosexuelle fürchteten drastische Einschränkungen ihres Schutzes vor Diskriminierung und der 2006 errungenen Möglichkeit zur Eheschließung. Inzwischen versuchten Neotraditionalisten abermals, einen veränderten Gesetzesentwurf durchs Parlament zu bringen, und die Rechte traditionell verheirateter Frauen werden immer wieder missachtet, wie südafrikanische Juristinnen dokumentieren (Thipe 2013).

In ländlichen Gebieten haben es Frauen aufgrund von schlechter Infrastruktur besonders schwer, Fälle von geschlechtsspezifischer Gewalt vor Gericht zu bringen. Dabei sollten das Gesetz gegen häusliche Gewalt von 1998 und das Sexualstrafrecht von 2007 Täter zur Rechenschaft ziehen. Auch Schwangerschaftsabbrüche sind schwierig, wenngleich das Recht darauf seit 1996 besteht.

Ein Drittel aller Gebärenden in Südafrika sind Teenager, was Schwangerschaftskomplikationen nicht nur bei HIV-positiven Mädchen zur Folge hat. Ungefähr die Hälfte der Kinder wächst bei alleinerziehenden Müttern auf. Vielen jungen Männern, die nie einen sorgenden Vater erlebt haben, fällt die Übernahme ihrer sozialen Vaterrolle schwer (siehe hierzu auch Artikel von Sonwabiso Ngcowa).

Eine praxisrelevante südafrikanische Studie zeigt, dass sorgende Eltern zur Gewaltreduzierung beitragen. Sie regelten Konflikte friedlicher, was die Gesundheit von Müttern und Kindern verbessere. Allerdings blieben Teilnehmer eines Programms zum Erlernen und zur Verbreitung der schützenden Elternrolle in ländlichen Gebieten mit hoher Arbeitslosigkeit und Armut wegen der gleichen Probleme vom Kurs fern, die allgemein ihre schwierige Lebenslage kennzeichnen: mangelnde Infrastruktur, plötzliche Krankheitsfälle und Tagelöhnerjobs. Unter Bezug auf den nationalen Entwicklungsplan setzt das Forscherteam diese Probleme mit politischen Aufgaben zur Reduzierung von Armut und Ungleichheit in Beziehung, konkret mit Jobs, Einkommen und menschenwürdigem Wohnen (Wessels/Lester/Ward 2016).


Rita Schäfer ist freiberufliche Wissenschaftlerin und Autorin
genderinafrika@web.de


Literatur

African Development Bank, 2015: Empowering African women, Agenda for Action, Africa Gender Equality Index 2015. Addis Abeba: AfDB.
http://www.afdb.org

African Union, 2003: Protocol to the African Chartre on human and people’s rights on the rights of women in Africa. Addis Abeba: African Union.

Bellows, A., Valente, F. et al, 2016: Gender, Nutrition, and the human right to adequate food. London: Routledge.

Cornwall, A., Edström, J., Greig, A. (eds.), 2011: Men and development, Politicizing masculinities. London: Zed Books.

Freedman, J. (ed.), 2012: Engaging men in the fight against gender violence. Case Studies from Africa. Houndsmills: Palgrave/MacMillan.

Thipe, T., 2013: Defining boundaries: Gender and property rights in South Africa’s traditional courts bill. In: Laws, 2, 4, 2013, S. 483-511.

Van den Berg, W. (ed.), 2015: State of Africa’s fathers: A men care advocacy publication. Adapted from state of the world’s fathers. Washington D.C.: Rutgers / Promundo et al.

Verschuur, C., Guérin, I., Guétat-Bernard, H. (eds.), 2014: Under development: Gender. Houndsmills: Palgrave/MacMillan.

Wessels, I., Lester, S., Ward, C., 2016: Engagement in parenting programmes. ISS Policy Brief, 82. Pretoria: Institute of Security Studies.


Links

African Union: Women, Gender and Development
http://au.int/en/wgd

Sonke Gender Justice Network
http://www.genderjustice.org.za/
 

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