Stadt und Umwelt

Alte Spiegel

Das kulturelle Erbe vieler großer Städte erodiert in Entwicklungsländern. Es geht nicht nur um historische Gebäude. In Kolkata (ehemals Kalkutta) sind viele Gewässer schützenswert.
Shiva-Tempel am Chatterjee Para Pukur. Mohit Ray Shiva-Tempel am Chatterjee Para Pukur.

Kolkata liegt im Gangesdelta. 1690 etablierte Job Charnock hier den Hauptsitz der englischen Ostindiengesellschaft, und die Stadt diente von 1774 bis 1911 als Hauptstadt des Britischen Indiens, bis die Kolonialregierung ihren Dienstsitz nach Neu Delhi verlegte. Seit Anfang des 19. Jahrhunderts gewann Kolkata an Bedeutung und Pracht. Es galt als „zweite Stadt“ des Britischen Empire, wurde ein Zentrum für Bildung, Kultur, Handel und Verwaltung und war auch eine Hochburg der Unabhängigkeitsbewegung.

Heute ist Kolkata die Hauptstadt des Bundesstaates Westbengalen und nach Mumbai und Delhi die drittgrößte Metropole Indiens. Sie ist mit mehr als 24 000 Menschen pro Quadratkilometer sehr dicht bevölkert. Hier leben 4,5 Millionen Menschen, im Großraum sogar rund 14 Millionen.

Es ist faszinierend, Kalkutta als Stadt der Gewässer zu sehen. Job Charnock baute sein Büro neben den Lal Dighi („Roter See“), der heute noch existiert. Später residierte am selben Ort die Kolonialregierung, heute die Landesregierung.

Lord Wellesley, der Generalgouverneur Indiens von 1798 bis 1805, fand, die Stadtentwicklung müsse geplant werden, und 1817 wurde dafür das erste Gremium gebildet. Es spielte eine Schlüsselrolle beim Bau mehrerer großer Straßen sowie der Aushebung und Instandsetzung von Teichen und Kanälen, die der Wasserversorgung der Bevölkerung dienten.

Die Kolonialregierung nannte den Raum rund um einen Teich häufig „Square“ (Platz) und schuf dort Grünanlagen. Viele Teiche wurden später wieder zugeschüttet, aber einige existieren bis heute. Lal Dighi wurde als „Tank Square“ bekannt und später in „Dalhousie Square“ umbenannt. Nach Gewässern benannte Plätze wurden zu Zentren für bestimmte Aktivitäten – vom Schwimmen bis zur politische Agitation. Bekannte Schulen und Hochschulen liegen in ihrer Nähe, sodass die Plätze auch von bedeutenden bengalischen Intellektuellen und Politikern besucht wurden.

Das Straßenverzeichnis der Stadtverwaltung (Kolkata Municipal Corporation, KMC) von 2006 führt 61 Straßen auf, die den Namen von Gewässern tragen. Zudem sind viele Viertel auf Bengali nach einem Teich („Pukur“) benannt: Monoharpukur, Ahiripukur, Boesepukur und viele mehr. Leider sind die jeweiligen Gewässer in vielen Fällen aber längst verschwunden  – nur die Namen sind geblieben.

Wegen Grundstücksspekulation wurden viele Teiche in Kalkutta wieder zugeschüttet. Auch heute bauen Immobilienfirmen Gebäude auf solchem Land. Dennoch ist eine bedeutende Anzahl an Teichen und Seen erhalten geblieben.

Laut einer KMC-Aufstellung existieren im Stadtgebiet 3874 Teiche. Sie ist jedoch unvollständig, denn mittels der Satellitenbilder von Google lassen sich mehr als 4500 ausmachen. Ich habe solche Gewässer im Rahmen von Aufträgen vom Central Pollution Control Board Ende des vergangenen Jahrzehnts genau untersucht.

Meine Kollegen und ich stellten fest, dass viele Teiche und Seen eine lange und faszinierende Geschichte haben, die dank mündlicher Überlieferung und manchmal auch schriftlicher Quellen bekannt ist. Eine ernsthafte Dokumentation wurde bisher aber nicht in Angriff genommen. Die KMC hat angefangen, Gebäude und Orte unter Denkmalschutz zu stellen, aber bisher kümmert sie sich nicht um Gewässer. Dabei verdienen diese als wichtige Komponenten des kommunalen Erbes Aufmerksamkeit.

Es gibt keine offizielle Definition dafür, welche Gewässer Denkmalschutz verdienen. Unsere Studie schlägt vor, die Seen und Teiche zu schützen, die

  • mindestens 100 Jahre alt sind,
  • entweder mit kulturellen oder religiösen Veranstaltungen oder mit angesehenen Persönlichkeiten und Familien zu tun haben oder
  • geschichtlich relevant sind.

Wir begannen mit Literaturstudien. Dann halfen uns vor Ort Anwohner, relevante Gewässer zu identifizieren. Grundsätzlich gibt es vier Kategorien von schützenswerten Gewässern:

  • manche sind älter als die Stadt,
  • manche haben eine religiöse Bedeutung,
  • manche stehen in Verbindung zu Tradition und Geschichte, und
  • manche sind politisch und sozial relevant.

 

Religiöse Bedeutung

Für Hindus ist die Aushebung von Gewässern traditionell eine fromme Pflicht. Über Jahrhunderte glaubte man, dass ein solcher philantropischer Akt die Seele eines reichen oder mächtigen Menschen retten würde. Entsprechend wurden einige Teiche schon vor sehr langer Zeit ausgehoben. Das älteste Gewässer im heutigen Gebiet der KMC ist der Sen Dighi („Sen-See“). Die Sens gelten als die letzten Hindu-Herrscher in Bengalen, bevor  muslimische Invasoren die Region im 13. Jahrhundert eroberten. In der Gegend des Sen Dighi wurden Artefakte aus den Jahren 750 bis 1230 gefunden.

Indische Glaubenssysteme haben eine organische Beziehung zu Gewässern. Es ist gängig, vor einem Tempelbesuch ein Bad nehmen, und verschiedene Rituale müssen im Wasser vollzogen werden. Daher sind viele Gewässer religiös relevant.

Charak Mela ist ein Fest zur Feier des Gottes Shiva, das seit mehr als 200 Jahren am Ufer des Paddapukur („Lotusteich“) stattfindet. An anderen Teichen und Seen liegen Tempel. Sechs Shiva-Tempel stehen beispielsweise am Ufer des Chatterjee Para Pukur im Südwesten Kolkatas. Sie sind älter als 150 Jahre. Pagla Pirer Pukur („der Teich des exzentrischen Muslim-Heiligen“) in Südkalkutta ist dagegen nach einem Sufi benannt und über 350 Jahre alt.

Muraripukur ist ein wichtiger Ort der Unabhängigkeitsbewegung. Hier war das geheime Hauptquartier des bewaffneten Widerstands. Der Platz hatte einmal mindestens acht Teiche, aber nur einer ist noch erhalten. Dort steht heute ein Denkmal für die Freiheitskämpfer.

Bisher haben wir 59 Teiche als schützenswert eingestuft, wobei 60 Prozent davon zum ersten Mal so bewertet wurden. 36 dieser Gewässer sind mehr als 150 Jahre alt. Nur eines weist eine Informationstafel auf, die die Öffentlichkeit über seine Geschichte unterrichtet. Rund 40 Prozent der Gewässer haben eine religiöse Bedeutung.

Kalkutta liegt in einem riesigen Flussdelta. Es handelt sich um eine Stadt der Gewässer, auf die bis heute sehr viele arme Menschen angewiesen sind. Rund 1 Million Menschen nutzen täglich Teiche und Seen, um sich, ihre Kleider und anderes zu waschen. Die Stadtplaner sehen in ihren Versorgungskonzepten für diese Leute, die ökonomisch und anderweitig ausgegrenzt sind, noch immer nichts vor. In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben Umweltschützer dafür gekämpft, Seen und Teiche zu erhalten und instand zu setzen.

Es wird Zeit, dass die Stadtverwaltung ihre Verantwortung übernimmt. Die KMC muss alle Gewässer sorgfältig dokumentieren und die Wasserqualität mit Blick auf die diversen Funktionen überwachen. Sie muss zudem die nötigen Strukturen schaffen, um mehrere Tausend Teiche und Seen kompetent zu verwalten. Andernfalls werden die Gewässer weiter mit Müll verdreckt und dann schließlich von Immobilienhaien aufgefüllt werden. Selbstverständlich sollte die KMC die Bürger auch über dieses reichhaltige Erbe informieren, auf das auch künftige Generationen Anspruch haben.

 

Mohit Ray ist Umweltingenieur und zivilgesellschaftlicher Aktivist. Er arbeitet als freiberuflicher Consultant. Sein Buch „Alte Spiegel“ beschäftigt sich mit aus kulturellen Gründen schützenswerten Teichen und wurde 2010 von der Kolkata Municipal Corporation veröffentlicht.
mohitray@hotmail.com

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