Migration

Zwischen den Welten

Die Entscheidung zur Flucht ändert das Leben ganzer Familien radikal. Dieser Artikel berichtet aus der Perspektive eines jugendlichen afghanischen Flüchtlings über die Schwierigkeiten der Integration in Deutschland und der Suche nach Identität. Von David Majed
Eine afghanische Flüchtlingsfamilie wartet im Kirchenasyl in München auf ein Asylverfahren. Sven Hoppe/picture-alliance/dpa Eine afghanische Flüchtlingsfamilie wartet im Kirchenasyl in München auf ein Asylverfahren.

Flüchtlinge verlassen das Land, in dem sie seit ihrer Geburt leben, in dem alles vertraut ist und dem sie sich vollständig zugehörig fühlen. Die Gründe dafür sind vielschichtig, doch die meisten flüchten vor einem Konflikt oder Bürgerkrieg, bei dem ihre Existenz zerstört wurde und geliebte Menschen umgekommen sind. Menschen gehen fort, um ihr Leben zu retten.

Von Afghanistan nach Deutschland müssen Flüchtlinge über 6 000 Kilometer hinter sich bringen. Nicht selten flüchten Familien mit ihren Kindern.

Eine „beliebte“ illegale Route führt zunächst über Iran in die Türkei. Darauf folgt eine unsichere, lebensgefährliche Reise – über das Mittelmeer von der Türkei mit kleinen Booten nach Griechenland. Diese Bootsüberfahrt endet für viele Flüchtlinge tödlich. Diejenigen, die es schaffen, illegal in Griechenland anzukommen, fahren von dort weiter nach Deutschland. In der Bundesrepublik beginnt im wahrsten Sinne des Wortes ihr neues Leben.

Die Ankunft in Deutschland ist für sie buchstäblich wie das Paradies auf Erden. Alles ist sauber, alles ist geregelt, alles sieht schön aus. Und es ist friedlich. Keine Bomben, keine Schüsse und keine Kampfjets.


Identitätsfindung

Während die jugendlichen Flüchtlinge die deutsche Kultur schnell annehmen, wollen die Eltern meist ihre kulturelle Identität erhalten, denn ihnen ist das Neue zu fremd. Das Erlernen der deutschen Sprache fällt den Eltern schwer, was zu einem gravierenden Hindernis für ihre Integration wird. Damit die vertrauten Verhaltensweisen und die Heimatkultur nicht verloren gehen, erwarten die Eltern, dass ihre Kinder die Gepflogenheiten der Heimat unbedingt befolgen. So gibt es zum Beispiel afghanische Familien, in denen die Mädchen islamische Kleidervorschriften beachten müssen; Liebesbeziehungen zwischen Mädchen und Jungen anderer Herkunft sowie Discobesuche samt Alkoholgenuss sind verboten.

Das führt zu einem inneren Dilemma. Zum Teil trauen sich die Jugendlichen nicht, mit den Eltern über verschiedene Wertevorstellungen zu diskutieren und ihre Autorität in Frage zu stellen. In ihrer Ursprungskultur gilt dies als höchst respektlos und wird nicht geduldet. So entwickeln nicht wenige ein Leben mit widersprechenden Werten – auch wenn den Betroffenen das oft nicht wirklich bewusst ist: Zu Hause akzeptieren sie bestimmte kulturelle Werte, auf die sie in der Außenwelt keine Rücksicht nehmen. Ein Beispiel: Traditionell erzogene afghanische Mädchen verlassen das Haus mit Kopfbedeckung und sittsamer Kleidung, abends tanzen sie mit Freundinnen in der Disco. Diese Art zu leben führt letztlich zu Identitätskonflikten und dazu, dass sie irgendwann nicht mehr wissen, welcher Kultur sie sich zugehörig fühlen sollen.

Doch gerade dieses Gefühl der Zugehörigkeit und ein Platz in einer Gemeinschaft sind nach wie vor essenziell für jeden Menschen. Er will sich nicht nur zugehörig fühlen, sondern seinen eigenen Platz in der Gesellschaft haben und von dieser akzeptiert werden. Die meisten kennen das verletzende Gefühl, von einer Gruppe ausgeschlossen zu werden. Der Individualpsychologe Theo Schoenaker hat herausgefunden, dass diese Menschen sich nicht nur schlecht, sondern auch minderwertig fühlen. Dies machen nahezu alle jugendlichen Flüchtlinge viele Jahre durch. Dabei verfügen diese Jungen und Mädchen über außergewöhnliche Lebenserfahrungen, haben tiefe Kenntnisse zweier Kulturen und sind bilingual.

Fällt diese Phase innerer Zerrissenheit in die ohnehin schon schwere Zeit der Pubertät, erleben die Jugendlichen oft eine massive Identitätskrise. Sie verlieren sich sozusagen und bleiben sich und anderen fremd. Während ein Teil von ihnen kriminell und radikal wird, bildet ein anderer Teil von ihnen seine eigenen kulturellen Enklaven.

Eine dritte Gruppe will weiterhin unbedingt von der deutschen Gesellschaft angenommen werden. Dies wird vielen aber unter anderem aufgrund ihres Aussehens erschwert, selbst wenn sie über einen deutschen Pass verfügen und fließend Deutsch sprechen. Da sie aber um jeden Preis akzeptiert werden wollen, beginnen manche ihre Ursprungskultur zu negieren, um sich so nach außen als so deutsch wie möglich zu geben.

In der Regel wird sich diese letzte Gruppe aber zu einer Zeit, wenn sie Schule und Studium erfolgreich hinter sich gebracht hat, für ihre Ursprungskultur und ihre alte Heimat interessieren. Angehörige dieser Gruppe fragen sich dann, was in ihrem Geburtsland geschah, als ihre Eltern flüchteten. Sie fragen sich, wie es dort heute aussieht und wie es den Menschen dort ergeht.

Wenn es die Möglichkeit dazu gibt, besuchen sie ihr Herkunftsland. Sie reisen in ein vertraut-fremdes Land, denn kaum etwas von ihren Erinnerungen oder von dem, was ihre Eltern ihnen erzählt haben, ist noch vorhanden. Der Krieg hat alles zerstört.

Der erste Aufenthalt ist oft schockierend. Sie gehen mit vielen Erwartungen in das Land ihrer Eltern, doch weil sie so­lange in Deutschland gelebt haben, ist ihnen das Geburtsland fremd.

Ihr deutsches Wesen und ihr Verhalten unterscheiden sie von den Menschen vor Ort. Sie beherrschen die Landessprache nicht mehr. Doch für viele bleibt es dennoch nicht nur bei einer Reise, denn die Gefühle und Wurzeln sind zu stark, um die Betroffenen loszulassen. Es folgen weitere Besuche, und sie passen sich jedes Mal besser an die schwierigen Umstände und die Erwartung der Menschen in der alten Heimat an.


Ideal als ­Entwicklungshelfer

Die Aufenthalte in der alten Heimat helfen ihnen, sich ihrer Ursprungsidentität bewusst zu werden und sie wertzuschätzen. Sobald dieser innere Prozess in Gang gesetzt ist, können die Bikulturellen aus den Erfahrungen zweier Welten und Kulturen gestärkt hervorgehen, denn sie können sich für das Stimmigste aus beiden Kulturen entscheiden.

Gerade diese binationalen Menschen sind prädestiniert dafür, als Entwicklungshelfer oder in ähnlichen Positionen in ihrem Ursprungsland eingesetzt zu werden. Sie sind eine Idealbesetzung in Entwicklungsorganisationen, denn sie sind mit der Kultur des Partnerlandes vertraut, sprechen die Landessprache und finden schnell Zugang zu Kollegen und der Bevölkerung. Sie sind begabte Vermittler und verfügen über eine hohe Kompetenz, um Wissen zu vermitteln und Projekte umzusetzen. Sie können so entscheidend zum Erfolg eines Projekts beitragen.  Diese Entsandten bleiben in der Regel viele Jahre im Einsatz, sodass ihr Wissen und ihre Fähigkeiten nachhaltig genutzt werden können. Oft werden aus diesen Menschen Wanderer zwischen den Welten, die sich nirgendwo wirklich niederlassen.


In vielen Entwicklungsprojekten wurde das Potenzial binationaler Fachkräfte bisher nicht ausgeschöpft. Ein Grund dafür könnte sein, dass beim Auswahlverfahren zugunsten der Fachkompetenz entschieden wird. Diese ist bei Binationalen in der Regel etwas weniger vorhanden als bei deutsch-­deutschen Bewerbern. Denn oft schaffen es die Flüchtlinge, die im späten Kindesalter oder als Jugendliche nach Deutschland kommen, nicht, Deutsch und Englisch perfekt zu beherrschen. Weiter müssen sie das Schulwissen mehrerer Jahre innerhalb kürzester Zeit nachholen. Das kann dazu beitragen, dass sie später nur einen durchschnittlichen Studienabschluss erreichen.

Doch die Fähigkeit, Wissen zu vermitteln, ist meines Erachtens wesentlich wichtiger als reines Fachwissen. Dies gilt umso mehr in Entwicklungsländern, in denen Krieg alle Infrastruktur zerstört hat und der Wiederaufbau bei null anfängt.

Doch es gibt auch Vorreiter. Ein gelungenes Beispiel stellt das Programm dar, welches das Centrum für internationale Migration und Entwicklung (CIM) im Auftrag des Auswärtigen Amts in Afghanistan umsetzt. Etwa die Hälfte der internationalen Fachkräfte, die CIM an Arbeitgeber in Afghanistan vermittelt, sind Deutsch­afghanen.

David Majed ist selbst Deutsch­-afghane und wurde vom Centrum für internationale Migration und Entwicklung (CIM) als Berater an das afghanische Hochschulministerium entsandt. Der Text gibt die persönliche Meinung des Autors wieder. Er hat mit Tanja Langer den Roman „Der Himmel ist ein Taschenspieler“ (LangenMüller Verlag) geschrieben. jawad.majed@yahoo.de

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