Schriftsteller

„Im Wahlkreis spielt das keine Rolle“

Seit Salman Rushdie 1981 mit dem Roman „Midnight’s Children“ den renommierten britischen Man Booker Prize gewann, hat eine ganze Reihe indischstämmiger Autoren internationale Erfolge verbucht. Hans Dembowski hat mit Schriftsteller Anant Kumar über die Bedeutung von Belletristen wie Aravind Adiga, Arundhati Roy und Shashi Tharoor gesprochen.


[ Interview mit Anant Kumar ]

Welches Publikum erreichen die indischen Autoren internationaler Bestseller?
Meinen Sie weltweit oder in Indien?

Beides.
Also auf dem indischen Subkontinent gibt es nur eine kleine Schicht, die Englisch gut genug beherrscht, um diese Bücher überhaupt im Original lesen zu können. Autoren, die in indischen Sprachen schreiben, erreichen viel mehr Menschen. Die Urheber internationaler Bestseller sind in Indien oft nur dem Namen nach bekannt, man hat über sie etwas in der Zeitung gelesen oder im Radio gehört – aber die Bücher selbst werden kaum zur Kenntnis genommen. Kommerziellen Erfolg genießen die Autoren, von denen Sie sprechen, vor allem im englischsprachigen Ausland.

Gibt es in Indien eine Skepsis gegenüber weltweit beachteten Schriftstellern, die sich kritisch über ihre Heimat äußern? Ich habe neulich gehört, wie eine indische Literaturwissenschaftlerin sich über Aravind Adigas „White Tiger“ aufregte. Ich fand diese Schilderung der gewaltgeladenen Beziehung zwischen Arm und Reich sehr eindringlich.
Viele Inder haben tatsächlich das Gefühl, das Ausland interessiere sich vor allem für Armut und die immensen sozialen Klüfte, die es ja auch wirklich gibt. Wer so denkt, unterstellt Schriftstellern schnell so etwas wie üble Nachrede, wenn sie diese Themen aufgreifen. Oft sehen sie dann nur noch, dass die Schattenseiten der indischen Realität zum Gegenstand der Literatur werden und dass das dem Image des Landes schaden könnte. Dabei sind dies Themen, die geradezu nach literarischer Behandlung schreien. Dieser Trend war sehr deutlich zu beobachten, als Arundhati Roy in den 90er Jahren für „The God of Small Things“ den Booker Prize gewann. Darin kommen Armut und Gewalt zwischen Religionsgemeinschaften vor – und gleich hieß es, Roy mache Indien schlecht. Das Buch selbst, das ich übrigens sehr gut finde, spielte in Indien keine große Rolle.

Ich erinnere mich noch gut daran, wie eine indische Bekannte sich damals darüber mokierte, dass Roy in Delhi meist in Bluejeans gesehen wurde, aber zur Preisverleihung in London einen Sari trug. Sie empfand das als Opportunismus.
Für konservative Geister ist gerade bei Frauen die traditionelle Kleidung ein Zeichen der Anerkennung der indischen Kultur und ihrer Vorstellung von Würde und Ehrbarkeit. Diese Leute können nicht verstehen, dass Menschen mit Kleidung spielerisch umgehen. Dass Roy in Indien Jeans trug, interpretierten sie nicht völlig zu Unrecht als Zeichen der Rebellion. Wenn dieselbe Frau dann bei einer feierlichen Zeremonie im Westen einen Sari anhat, interpretieren sie das nicht als Bekenntnis zu Indien. Sie nehmen das als Anbiederung an den Westen wahr, als hätte Roy es nötig gehabt, irgendjemanden in England daran zu erinnern, woher sie stammt. Ich finde übrigens sehr spannend, dass Roy nach ihrem literarischen Riesenerfolg belletristisch nicht mehr in Erscheinung getreten ist. Sie schreibt jetzt politische Essays – über die WTO, über Atomwaffen, über Staudämme, über Kaschmir und andere Themen.

Mir kommt sie vor wie ein Kind der Globalisierung, auch wenn sie sich selbst sicherlich als Globalisierungskritikerin versteht. Mein Eindruck ist, dass ihre Ansichten in der Alternativszene und den nichtstaatlichen Organisationen der reichen Länder mehr Anklang finden als in Indien.
Das ist bestimmt so, Roy ist so etwas wie ein internationaler Streetworker geworden. Ich sehe mich selbst auch so. Sie mischt sich ein, sie argumentiert mit großer Leidenschaft. Man muss aber sicherlich nicht alle ihre Einschätzungen teilen, um sie als große Essayistin anzuerkennen.

Ich möchte noch mal auf meine Eingangsfrage zurückkommen: Wer ist das internationale Publikum der indischen Erfolgsautoren?
Die meisten Bücher werden in den USA und in den Ländern des Commonwealth verkauft. Länder wie Deutschland oder Frankreich sind als Absatzmärkte nicht besonders wichtig. Aber in Britannien, den USA und Kanada oder auch Australien gehört englische Literatur aus Südasien – nicht nur aus Indien, auch aus Pakistan oder Bangladesch – heute zum Mainstream.

Geht es dabei vielleicht um Migrationserfahrungen und um die Brüche zwischen Kulturen? Bei Chitra Banerjee Divakaruni oder Jhumpa Lahiri ist das sehr deutlich.
Ja, beide Frauen schreiben schöne Geschichten, aber mit dem indischen Alltag hat das zum größten Teil wirklich nicht viel zu tun. Es hat aber sehr viel mit der Lebenswirklichkeit der beträchtlich großen indischen Diaspora in verschiedenen reichen Ländern zu tun. Jährlich erteilen die USA zigtausend Studentenvisa an Inder. Sie dürfen nicht unterschätzen, wie viele Inder aus den gebildeten Mittelschichten Auslandserfahrung sammeln oder gesammelt haben – und sie lesen oft die Autoren, über die wir hier sprechen.

Ist das aber nicht ein Publikum, das mittelfristig großen Einfluss auf Indiens Entwicklung nehmen wird?
Das kann sein. Ich hoffe jedenfalls, dass der Einfluss positiv sein wird, aber ich kann das heute nicht beurteilen. Vielleicht sollten wir das in 20 Jahren noch mal diskutieren.

Profitieren die Bestsellerautoren aber nicht vor allem von einer gewissen Indien-Romantik in westlichen Gesellschaften?
Da würden ihnen wichtige Vertreter dieses Genres widersprechen. Shashi Tharoor, der frühere Stellvertreter von Kofi Annan bei den UN und heutige Staatsminister im indischen Außenministerium, ist nebenberuflich ein brillanter Schriftsteller. Er hat einmal gesagt, das, was ihn und seine Autorenkollegen auszeichne, sei, ohne jede Romantik über Indien zu schreiben. Er sieht sich gewissermaßen als unmittelbaren Botschafter Indiens, der nicht von Palästen, Tigerjagden oder Sonnenuntergängen über Dschungellichtungen schreibt, sondern von der Wirklichkeit seiner Heimat angetrieben wird.

Dass Tharoor heute für die Kongresspartei im Parlament sitzt und als Staatsminister im Außenministerium dient, finde ich bemerkenswert. Die Partei kommt in seinem Roman über die Unabhängigkeitsbewegung und die ersten Jahrzehnte nach der Befreiung vom kolonialen Joch nicht gut weg.
Die meisten seiner Fraktionskollegen werden seine Bücher gar nicht kennen. Sie müssen sie auch nicht kennen, in ihren Wahlkreisen spielt das keine Rolle und in der nationalen Politik auch nicht. Andererseits steht Tharoor meiner Meinung nach eindeutig in der Tradition von Jawaharlal Nehru, Indiens erstem Premierminister nach der Unabhängigkeit. Nehru betonte immer die indische Kultur und ihre Werte und bestand zugleich auf Aufklärung und Modernisierung. Im Kern nahm er den Briten übel, dass sie Aufklärung und Modernisierung so lange blockiert hatten. Nehru wollte ein weltoffenes Land, das moderne Technik nutzt und fest auf seinen kulturellen Fundamenten ruht.

In „The Great Indian Novel“, dem erwähnten Roman, verspottet Tharoor Nehru aber als einen blinden Visionär, dem es mit schönen Worten gelingt, alle anderen von seinen Visionen zu überzeugen, obwohl diese doch die Realität sehen können.
Die Metapher ist literarisch ausgesprochen schön. Aber sie ändert nichts daran, dass Tharoors Haltung sehr ähnlich ist wie die von Nehru. Er ist Inder und Weltbürger zugleich, er kennt die klassische Kultur und versendet Mitteilungen per Twitter.

Ich glaube nicht, dass die hiesige CDU einen Autor, der Konrad Adenauer, ihre große Führungspersönlichkeit nach dem Zweiten Weltkrieg, so verspottet, wie das Tharoor mit Nehru tut, in ihrer Bundestagsfraktion dulden würde. Und in der SPD käme vermutlich auch kein Schriftsteller zu Amt und Würden, der ähnlich mit Willy Brandt umginge.
Indien ist in solchen Dingen toleranter, pluralistischer, duldsamer. In den Veden, den heiligen Schriften der Hindus, wird deutlich, dass mehr als nur eine Sicht der Dinge Geltung haben kann und haben muss. Polyphonie und Widersprüchlichkeit werden akzeptiert, sie werden als notwendig und unabweisbar hingenommen.

Tharoors „Great Indian Novel“ ist an das Mahabharata angelehnt, ein großes mythisches Werk. Dessen religiös wichtigster Text, die Bhagavad Gita, hat Tharoor sogar umgedichtet. Warum bekommt er deswegen keine Schwierigkeiten mit fundamentalistischen Kräften?
(lacht) Vielleicht haben die Hindu-Supremacists das noch gar nicht gemerkt. Wahrscheinlicher ist aber, dass sie stillschweigend seine literarische Leistung anerkennen und sich keine unnötige Blöße geben, indem sie sich mit ihm auf dieser Ebene anlegen.

Derartige Toleranz hat Salman Rushdie mit den „Satanischen Versen“ aber nicht erfahren.
Der Skandal um dieses Buch war eine Katastrophe, aber er ging nicht von Indien aus, auch nicht von indischen Muslimen. Ajatollah Chomeini hat als geistiger Führer und totalitärer Herrscher des Iran vor 20 Jahren die Fatwa ausgesprochen, der zufolge Muslime in aller Welt aufgerufen waren, Rushdie wegen Gotteslästerung zu töten. Diese grausame Verfolgungspolitik hat Rushdie und seinem literarischen Werk schwer geschadet. Es ist bewundernswert, dass er nie aufgegeben, sondern trotzdem noch einen großartigen Roman nach dem anderen geschrieben hat.

Die „Satanischen Verse“ wurden auch in Indien verboten, sein sarkastischer und bissiger Roman über Indiens Geschichte im 20. Jahrhundert, in dem wieder die Kongresspartei sehr schlecht wegkommt, aber nicht.
Die Kongresspartei, die damals die Regierung stellte, ist sehr vorsichtig bei allem, was die muslimische Minderheit in Indien betrifft oder auch nur betreffen könnte. Literarische Kritik an sich selbst lässt sie aber einfach abtropfen. Keine Frage: Das indische Establishment mag Rushdie nicht sonderlich. Er ist ein anstrengender Typ, der literarische Feuerwerke entfacht und über alles und jeden spottet. Er ist unbequem und auch nicht leicht zu lesen. Aber dank seiner langen Handlungsbögen und seines sprudelnden Sprachschatzes ist er eine enorme Bereicherung für die englischsprachige Literatur. Seine künstlerische Bedeutung kann man gar nicht überschätzen.

Aber in Indien wird vor allem seine Kritik an Indien wahrgenommen?
Selbstverständlich äußert er sich oft kritisch über Indien. Ich finde aber wichtiger, dass er in jedem seiner Werke die Kraft der indischen Kultur offenbart, die Hindus und Moslems verbindet und der auch die Armut nichts anhaben kann.

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