Selbstbestimmte Dorfentwicklung

Unser Schicksal in unserer Hand

Indigene Adivasi-Stämme gehören zu den am stärksten benachteiligten Menschen südlich des Himalaya. Um ihr Schicksal zu verbessern, gründen manche von ihnen Selbsthilfeorganisationen.

Von Boro Baski

Ich arbeite als Lehrer und Sozialarbeiter für den Ghosaldanga Adibasi Seva Sangha, eine nichtstaatliche Organisation auf Dorfebene („Adibasi“ ist Bengali für „Adivasi“). Wir widmen uns der ganzheitlichen Entwicklung des Santal-Stammes in Ghosal­danga und Bishnubati, zwei Dörfern in Westbengalen. Vor allem kümmern wir uns um Bildung, aber auch um Gesundheit, Einkommensschaffung, Bio-Landwirtschaft und kulturelle Dinge. Unsere Häuser sind aus Lehm und haben Strohdächer. Die Santal bilden ein Prozent der indischen Bevölkerung und gelten als eines der rückständigsten Adivasi-Völker.

Die 175 Familien, mit denen wir hauptsächlich arbeiten, leben von der Landwirtschaft. Davon können sie sich aber nicht das ganze Jahr über ernähren. In der Trockenzeit arbeiten sie auf Baustellen in den nahe gelegenen Kleinstädten Bolpur und Santiniketan.

Die Adibasi Seva Sangha folgt keiner ausgeklügelten Strategie oder konventionellen Entwicklungsmethode. Unsere Aktivitäten haben sich schrittweise aus den Bedürfnissen der Menschen ergeben. Wir wollen die Harmonie unserer Dörfer erhalten, unsere Lebensweise bewahren und die ländliche Infrastruktur verbessern. Wir haben zum Beispiel Bäume an den Wegen zwischen den Dörfern gepflanzt, die Schatten und Feuerholz spenden.

Wir erleben, dass der Wechsel von der Tradition zur Moderne schwierig ist – über Generationen hinweg. Wir wollen nicht überwältigt werden. Verschiedene soziokulturelle und religiöse Feinheiten prägen unser Leben. Einen einzelnen Aspekt zu verändern wird kaum unseren gesamten Lebensstandard anheben. Wir gehen ganzheitlich vor, um alle relevanten Aspekte des Dorflebens zu berücksichtigen. Unser Konzept ist in dieser Hinsicht seit 25 Jahren gleich.

Unsere Initiative richtet sich nach dem Rhythmus und den Fähigkeiten der Dorfbewohner. Zum Beispiel widmen wir uns nicht nur unseren Schülern, sondern auch deren Familien. Analphabetische Eltern können ihren Kindern in Bildungsdingen kaum helfen. Wir haben dorfartige, offene Klassenräume errichtet. Die Schüler helfen, das Schulgelände zu putzen. Die Adibasi Seva Sangha wurde von einer Gruppe junger Männer gegründet – ich war einer davon. Wir wurden von Martin Kämpchen beraten, einem deutschen Autor und Akademiker, der in Santiniketan lebt und mir und anderen beim Abschluss der High School geholfen hat.

Bildung

Unser bisher größter Erfolg ist die Gründung unserer eigenen Grundschule. In den letzten Jahren sind staatliche Schulen in Westbengalen zwar besser geworden, aber trotzdem haben wir Santals das Gefühl, dass sie eher für die Bengali sprechende Mehrheit der Bevölkerung gedacht sind. Anders als Santals sind diese hauptsächlich Hindus und Muslime. Viele Santalkinder tun sich an den staatlichen Schulen schwer. Die Unterrichtssprache und -methode, Lehrplan und Notenvergabe entsprechen nicht unseren Bedürfnissen. Dass unsere Sprache nicht verwendet wird, belastet das Selbstbewusstsein unserer Kinder. Außerdem verdienen unser traditionelles Wissen und unser Kunsthandwerk wiederbelebt und gefördert zu werden.

Üblicherweise ist dem Staat die Bildung von Santals ein „humanitäres“ Anliegen. Folglich wird es nicht mit Ehrgeiz in Angriff genommen. Behörden setzen grundsätzlich „kulturell anders“ mit „kulturell mangelhaft“ gleich. Der indische Staat fördert zwar Minderheiten wie Adivasis, indem er Stipendien und Stellen im Staatsdienst für sie quotiert, er tut aber nichts dafür, dass Santals und andere Adivasis das nötige Wissen erwerben, um davon zu profitieren. Analphabeten haben im Wettbewerb offensichtlich keine Chance.

Deshalb haben wir den Rolf Schoembs Vidyashram (RSV) gestartet. Das ist unsere Santal-Grundschule mit ganzheitlicher Pädagogik, in der die Kinder zunächst in ihrer Muttersprache unterrichtet werden, bevor der Unterricht schrittweise auf Bengali umgestellt wird. Nach der vierten Klasse können unsere Kinder staatliche Schulen besuchen.

Wir unterrichten Standardfächer wie Geografie, Naturwissenschaften und Mathematik – wir führen die Kinder aber auch in traditionelle Bräuche und Kultur, Geschichte, Kunst und Musik ein. Die Schule wurde nach Rolf Schoembs benannt, einem deutschen Astrophysiker, der Martin Kämpchen in seinem Testament einen Teil seines Vermögens für die Dorfentwicklung vermachte. Mit diesem Geld haben wir die Schule aufgebaut. Unsere Arbeit stützt sich auf Spenden aus Deutschland. Wir wurden außerdem lange von der Ramakrishna Mission unterstützt, einem hinduistischen Mönchsorden, den der reformorientierte Swami Vivekananda im 19. Jahrhundert gründete.

Gesundheit

Das Leben vieler Santals ist hart. 2011 wurde das wieder in einer Studie der Sarva Siksha Mission (SSK), einem staatlichen Programm zum Monitoring der Lebenssituation von Schülern, deutlich. Die SSK untersuchte die Gesundheitssituation im Birbhum-Distrikt, in dem wir leben. Mehr als 500 Kinder im Alter von sechs bis elf Jahren wurden befragt. Die meisten von ihren waren Adivasis. Die ersten Ergebnisse waren schockierend. Acht von zehn Kindern sagten, sie würden sich abends nicht die Zähne putzen und sich nach dem Toilettenbesuch nicht mit Seife die Hände waschen.

Alle Familien hatten Seife zu Hause, doch die Kinder nahmen an, diese sei nur zum Baden da und nicht zum Händewaschen. Viele junge Mädchen sind nicht über die während ihrer Menstruation nötigen – und verfügbaren – Hygienemittel aufgeklärt. Daher bleiben sie jeden Monat drei bis vier Tage von der Schule fern. Hygiene ist aber keine Frage des Geldes, sondern von Bewusstsein und Gewohnheiten.

Gewohnheiten entstehen in der Kindheit. Um in unseren Dörfern die Benutzung von Latrinen durchzusetzen, ist geduldige Erziehung von früher Kindheit an nötig. In unserem Bildungszentrum benutzen Schüler seit fünfzehn Jahren Toiletten, und sie sorgen dann dafür, dass auch ihre Familien Latrinen benutzen. Wir helfen wirtschaftlich schwachen Familien bei dem Bau von Gemeinschaftstoiletten und übernehmen Verantwortung für ihre Instandhaltung.

Wir betreiben zudem ein eigenes kleines Gesundheitszentrum. Monika Golembiewski – eine deutsche Kinderärztin, die uns seit 16 Jahren regelmäßig besucht – hat es konzipiert. Sie leitet außerdem die deutsche Initiative Shining Eyes, die ein Kinderkrankenhaus in Bolpur betreibt. Dort werden auch ernste medizinische Fälle aus unseren Dörfern behandelt.

Wir stehen vor externen und internen Herausforderungen. Ein externes Problem ist die „Mainstreamkultur“ der Print- und elektronischen Medien. Unsere Dorfbewohner können sich viele attraktive Dinge weder leisten noch damit richtig umgehen. Handys, Motorräder, Popmusik, Jeans, Sonnenbrillen, duftende Seife und Parfüms sind neu und reizvoll, aber diese Versuchungen schaffen auch Probleme. Uns fehlen Geld, Selbstvertrauen, Bildung und modernes Alltagswissen, um sie zu kaufen und zu nutzen – aber auch, um auf sie zu verzichten. Das führt zu Frustration, Selbstzweifeln und Verwirrung.

Intern problematisch ist, dass unsere kulturellen Werte mit moderner Entwicklung nicht unbedingt kompatibel sind. Santalkinder wachsen mit wenigen „dos and don’ts“ auf; sie führen in den Dörfern ein recht sorgenfreies Leben. Jugendliche genießen Freiheit und den Raum, sich ihren Interessen hinzugeben. Die Mainstreamgesellschaft besteht dagegen auf einem durch Bildung vermittelten, formellen Wertesystem. Die Ausbildung an öffentlichen Schulen verlangt von den Kindern die Einhaltung unterschied­licher Regeln. An dieser Sozialisation scheitern die meisten Santalkinder. Sie werden gezwungen, ihre eigene, geschätzte Kultur abzulehnen und neue Werte zu übernehmen.

Letztlich ist die Geschichte der Santal eine Geschichte von Migration, Vertreibung, Armut und Ausbeutung. Santals überliefern solche Erfahrungen mündlich von einer Generation zur nächsten. Dieses Erbe prägt die Persönlichkeit und macht den Übergang von Tradition zu Moderne kompliziert.

Sona Murmu aus Ghosaldanga und ich selbst aus Bishnubati waren vor 25 Jahren die Ersten aus unseren Dörfern, die weiterführende Schulen besuchten. Heute tun das mehr als 100 Jugendliche und einige studieren an der Universität. Einige unserer Alumni sind heute im Staatsdienst, weitaus mehr arbeiten als Selbstständige. Derweil übernehmen viele ausgebildete Jugendliche Verantwortung in unserer Selbsthilfeorganisation.

Die Dorfstraßen waren früher schlammig und im Monsun nicht befahrbar. Heute sind sie befestigt. Wir haben bei Bau und Reparaturen von Brücken mitgewirkt. Die Dörfer verfügen nun über Strom, ausreichende Wasserversorgung und sogar Computer. Unsere Arbeit bringt allmählich Resultate. Junge Leute aus umliegenden Dörfern kommen zu uns, auf der Suche nach Unterstützung für ihre eigenen Ini­tiativen. Unser Verein will aber nicht expandieren, sondern unsere Erfahrung mitteilen und anderen Dörfern als Mentor zu dienen. Wir sehen Entwicklung als Reise, an der wir alle teilhaben sollten und die zur Verbesserung unseres Lebens und unserer Gesellschaft führt.

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