Religionsgemeinschaften

„Würde und Selbstwert“

In Nigeria geraten Christen und Muslime immer wieder aneinander, so auch im Bundesstaat Plateau. Die Gründe dafür sind aber nicht spiritueller Art, und viele religiöse Führer sprechen sich explizit für Frieden aus. Becky Adda-Dontoh bedauert im Interview mit Hans Dembowski jedoch, dass das nicht alle tun. Sie arbeitet im Rahmen des Zivilen Friedensdienstes für die katholische AGEH.
Im Januar 2010  patrouillieren Sol­daten in den Straßen von Jos, nachdem bei Ausschreitungen mehr als 300 Menschen ums Leben gekommen waren. picture-alliance/dpa Im Januar 2010 patrouillieren Sol­daten in den Straßen von Jos, nachdem bei Ausschreitungen mehr als 300 Menschen ums Leben gekommen waren.

Internationale Medien berichten von Zusammenstößen zwischen Muslimen und Christen in Nigeria. Sind diese wirklich religiös motiviert oder handelt es sich eher um Konflikte zwischen Nomaden und Bauern, wie sie in der gesamten Sahel-Zone auftreten?
Nun, diese Spannungen spielen auch eine Rolle, aber die Konflikte in Nigeria sind maßgeblich von der Religion bestimmt. Nach Selbstmordattentaten oder Mob-Angriffen auf religiöse Stätten kommt es oft zu Vergeltungsattacken. Die Menschen sehen die Reli­gionen als „verfeindete Glauben“ an. Die Nigerianer sind zudem sehr leidenschaftlich bezüglich Religion, was es Anführern leicht macht, die Gefühle der Gläubigen so zu manipulieren, dass sie ihren eigenen selbstsüchtigen Vorhaben dienen. Meist gehören ethnische Gruppen auch bestimmten religiösen Glaubensrichtungen an. In Plateau State zum Beispiel, wo ich arbeite, sind die Indigenen meist christlich, die Siedler eher muslimisch. Als „Indigene“ bezeichnet man hier diejenigen, die von lokalen Stämmen abstammen, während „Siedler“ neu in dieser Gegend sind. Das ist relevant, denn die nigerianische Verfassung stellt Herkunft über Ansässigkeit.

Was sonst fördert den Konflikt?
Menschliche Grundbedürfnisse sind wichtig, etwa Grundsicherung, Identität und Teilhabe am öffentlichen Leben. Aber auch die wachsende Kultur der Straffreiheit heizt die Konflikte an. Kaum jemand traut den Sicherheitskräften, weil sie teils willkür­liche Verhaftungen vornehmen sowie Folter und andere Menschenrechtsverletzungen begehen. In Jos, der Hauptstadt von Plateau State, meinen viele Indigene, die Militärs stünden auf Seiten der Siedler, während die Siedler denken, die Polizei halte zu den Indigenen. Derartige Wahrnehmungen untergraben die Autorität der Sicherheitskräfte. Die Menschen betreiben eher Selbstjustiz, als sich auf Militär oder Polizei zu verlassen. Viele Nigerianer gehen davon aus, dass jenen Recht gegeben wird, die am meisten dafür zahlen – nicht unbedingt denjenigen, die es verdient hätten.

Islam wie Christentum beanspruchen für sich, friedliche Religionen zu sein. Unterstützen die Religionsoberhäupter nicht die Versöhnung?
Die meisten geistlichen Führer rufen zum Frieden auf. Aber manche heizen die Spannungen durch provokante Predigten auch an. Manche fordern ihre Anhänger sogar auf, zur Waffe zu greifen, um den „Feind“ zu bekämpfen. Sie agieren mehr im Hintergrund als diejenigen, die den Frieden wollen. Der katholische Erzbischof von Jos, Ignatius Kaigama, ist einer der bekanntesten geistlichen Führer und gilt als Vertreter für Frieden und Versöhnung. Kürzlich eröffnete er das „Dialogue Reconciliation and Peace Centre“. Er kooperierte auch mit dem letzten Emir von Wase, Alhaji Abdullahi Haruna Maikano, und seinem Vorgänger und berät sich regelmäßig mit anderen christlichen und muslimischen Führern. Auch die regionalen Leiter der NACOMYO – der Nationalen Koalition muslimischer Jugendorganisationen – setzen sich für die christlich-muslimische Zusammenarbeit in Plateau State ein. Letztes Jahr etwa luden sie christliche Geistliche in die Zentralmoschee von Jos ein. Das war bedeutsam, denn die Moschee und ihre Umgebung galten als No-go-Area für Christen. Langsam nähern sich die polarisierten gesellschaftlichen Gruppierungen von Jos einander an.

Wie gehen muslimische Führer mit Streitigkeiten untereinander um?
Laut Sani Suleiman von der Gerechtigkeits-, Entwicklungs- und Friedenskommission gibt es mehrere Ansätze:

  • Traditionell kann eine Streitfrage vor den Emir gebracht werden. Das ist ein traditioneller Führer, der in Nordnigeria als Imam und Richter geachtet wird. Der Emir und seine Berater verhandeln dann über die Angelegenheit und ihre Entscheidung sollte von allen akzeptiert werden.
  • Der üblichere Weg ist, dass sie miteinander diskutieren. Sie beziehen sich dabei auf den Koran und andere religiöse Quellen. Sani zufolge kann jeder eine solche intellektuelle Debatte einfordern.
  • Ein dritter Weg ist eine Schlichtung durch Familienälteste, bei der oft auch Versöhnungsrituale vollzogen werden.
  • Bisweilen wird auch bei muslimischen Autoritäten aus anderen Teilen Nigerias Rat gesucht.

Werden auf diese Weise alle Dispute gelöst?
Manchmal nicht und das kann fatal sein. Im August 2011 etwa konnten sich Führer der Izala-Sekte nicht mit anderen muslimischen Autoritäten darüber einigen, wo die Eid-Gebete zum Ende der Fastenzeit stattfinden sollten. Trotz offensichtlicher Sicherheitsrisiken beteten sie schließlich an der Rukuba Road, woraufhin es zu heftigen Auseinander­setzungen mit jungen Christen kam.

Sind sich auch Christen verschiedener Kirchen nicht immer einig?
Ja, es gibt auch hier Meinungsverschiedenheiten. Kürzlich brachte die Katholische Bischofskonferenz bei der Christlichen Vereinigung von Nigeria (CAN) schriftlich ihre Vorbehalte vor. Auch so kann man mit Unstimmigkeiten umgehen. Es wird beispielsweise auch von Uneinigkeit unter Geistlichen berichtet, ob Kirchen mit Waffengewalt gegen Angriffe zu verteidigen seien. Manche befürworten das, andere sind strikt dagegen.

Welche Rolle spielt dabei die wirtschaftliche Lage?
Die Arbeitslosigkeit in Nigeria ist hoch. Viele Jugendliche haben nichts zu tun und sind leicht manipulierbar. Aus Armut sind einige bereit, für Geld Gewalt­taten zu begehen. Kriminelle sind daran interessiert, Krisen zu provozieren, um plündern und stehlen zu können. Hungrig aussehende, Drogen konsumierende Jugendliche sind potenzielle Rekruten für gewalttätige Gangs und militant-fundamentalistische Gruppierungen, von denen Boko Haram wahrscheinlich die gefährlichste ist. Gäbe es insbesondere in der Landwirtschaft mehr Jobs, gäbe es auch weniger Frustrationen und weniger Konflikt in Plateau State.

Die nigerianische Regierung betrachtet Boko Haram als terroristische Bewegung. Findet ihr Anliegen Resonanz in der Bevölkerung?
Boko Haram ist öffentlich und politisch isoliert. Die meisten Nigerianer – Christen wie Muslime – verurteilen ihre Gewalt und wahllosen Tötungen. Zugleich identifizieren sich viele Nigerianer privat mit Boko Harams Einstellung bezüglich Armut und schlechter Regierungsführung. In Nordnigeria führen wachsende Armut und exzessive Militäreinsätze zu Abneigung gegenüber Regierungsinstitutionen, was guten Nährboden für die Rekrutierung junger Muslime für Boko Haram schafft. Ein junger Mann in Jos sagte mir, er würde zu Boko Haram gehen, wenn er wüsste, wie er sie kontaktieren kann. Er sagte, er sehe keine Zukunft für sich, da seine Familie schrecklich arm sei. Gegen Geld würde er für Boko Haram kämpfen. Ich fragte ihn, ob er wirklich bereit sei, Menschen zu töten für eine vermeintlich bessere Zukunft, aber ohne Garantie dafür. Er meinte, er sei selbst bereits ein „lebender Toter“ und wenn das allen egal sei, warum sollte er es nicht tun? So verzweifelt sind etliche leistungsfähige junge Männer.

Haben Konflikte in anderen Ländern – etwa in Somalia oder Mali – Auswirkungen auf die Entwicklungen in Nigeria?
Auf jeden Fall. Ein Beispiel war Anfang dieses Jahres in Kogi State ein Angriff auf nigerianische Truppen, die auf dem Weg nach Mali waren, aus dem Hinterhalt. Oder die Geiselnahme von sieben Ausländern in Bauchi im Februar. Über die Medien ließen die Kidnapper verlauten, sie rächten sich für Europas Rolle bei der französischen Intervention in Mali. Oft diskutieren untätige muslimische Jugendliche leidenschaftlich über Gewalt in Afghanistan, Pakistan, Somalia oder Mali – ihrer Auffassung nach handelt es sich um westliche Aggressionen gegenüber diesen Ländern. Radikale können solche Einstellungen leicht für sich nutzen. Auch der Konflikt in Libyen hat Auswirkungen auf Nigeria. Nigerianer, die für die frühere libysche Regierung gekämpft haben, sind inzwischen heimgekehrt – teils mit schweren Waffen. Boko Haram hat ganz gewiss Interesse daran, sie zu rekrutieren.

Spielen auch die Folgen des Klimawandels – unregelmäßige Regenfälle etwa – eine Rolle?
Ja, der Klimawandel ist bedeutsam. Wie Sie eingangs erwähnten, eskalieren Konflikte über Weideland zwischen nomadischen Fulani-Hirten und Bauern in verschiedenen nigerianischen Staaten, so auch in Plateau State. Durch die Versteppung geht Weideland verloren, also gibt es noch mehr Streitpunkte. Unregelmäßiger Regen und Überflutungen verschlimmern zudem die Probleme armer Familien auf dem Land. Immer mehr junge Leute ziehen von den Dörfern in die Städte, wo sie sich oft doch nur den Massen arbeitsloser und frustrierter Gleichaltriger anschließen können.

Gibt es einen Gender-Aspekt im Zusammenhang mit den Gewaltkonflikten?
Frauen werden Opfer physischer und sexueller Angriffe. Manche werden absichtlich verletzt, um ihre Männer und Väter zu beschämen, zu demütigen und ihnen Leid zuzufügen. Frauen und Kinder sind am schlimmsten von Gewalt betroffen, aber in den Friedensinitiativen der Regierung werden sie kaum beachtet. Einige Frauen tun sich zusammen, um sich für Frieden und gegen Gewalt einzusetzen. Andere wiederum beteiligen sich zunehmend an Unruhen, weil sie es satt sind, zuzusehen, wie ihre Männer und Söhne getötet werden. Eine dritte Gruppe lehnt sich gegen die Sicherheitskräfte auf und macht diese für Menschenrechtsverletzungen und sexualisierte Gewalt verantwortlich.

Inwieweit befriedigen Religion und religiöser Radikalismus das Bedürfnis der Menschen nach Identität und Selbstwert?
Viele Nigerianer, die sich von der Regierung marginalisiert, entrechtet and ausgeschlossen fühlen, suchen Zugehörigkeit im Glauben – Christen wie Muslime. Das gilt insbesondere in Krisenzeiten, wenn die allgemeine Stimmung ist: „Entweder bist du für oder gegen uns.“ Das Bedürfnis, sich einer Gruppe zugehörig zu fühlen, um Schutz vorm Feind zu finden, bindet die Menschen an ihre religiöse Gemeinschaft und kann zur Radikalisierung führen. Es geht dabei viel mehr um Würde und Selbstwert als um spirituelle Verbindung.

Ihre Aufgabe ist es, Frieden zu fördern. Was genau tun Sie?
Das Wichtigste ist, das Vertrauen und die Zuversicht der Menschen, mit denen wir arbeiten, zu gewinnen. Ihre Kultur muss respektiert werden, das ist ausschlaggebend. Ehe wir in einer Gemeinde anfangen zu arbeiten, stellen wir uns den religiösen, politischen und traditionellen Führern vor. Dann besprechen wir gemeinsam die Bedürfnisse ihrer Gemeinde. Wir zeigen immer Wertschätzung für ihren Status und ihre Position, indem wir höflich sind und angemessene Kleidung tragen. Wir tun alles, um sie niemals zu beleidigen. Der zweite Schritt ist, Leute zu lokalen „Friedensagenten“ auszubilden. Zusammen mit den Dorfältesten machen wir sie mit den grundlegendsten Peacebuilding-Fertigkeiten vertraut. Frühwarnsysteme haben sich als sehr sinnvoll erwiesen. Mitglieder der Gemeinschaft erkennen oft frühe Konfliktzeichen. Sie können gemeinsam mit den Friedensagenten dazu beitragen, dass Spannungen frühzeitig auf friedliche Weise gelöst werden. Und schließlich bewährt es sich auch, strategische Beziehungen zu Militär, Polizei und Sicherheitskräften aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Ich habe viel über Konflikte und die diversen Gruppen gelernt, indem ich mit anderen friedens­fördernden zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammengearbeitet habe.

 

Becky Adda-­Dontoh ist Friedensberaterin für die Justice Development and Peace Commission in Jos, Nigeria. Sie arbeitet im Auftrag der  katholischen Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungshilfe  (AGEH), die zum Konsortium des Zivilen Friedensdienstes (ZFD) gehört. Der ZFD wird von ENGAGEMENT GLOBAL unterstützt und beraten.
beckyadda@yahoo.com

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