Ost-Timor

Unversöhnt

Ost-Timor ist ein kleines Land mit 1,2 Millionen Einwohnern. Nach der portugiesischen Kolonialherrschaft und 25 Jahren indonesischer Besatzung entschied es sich 1999 in einem Referendum für die Unabhängigkeit. Während des ­Referendums veranstalteten indonesientreue Milizen schlimmes Blutvergießen.

Von Edith Koesoemawiria

Als das Referendum im August 1999 stattfand, war Olan fast 12 Jahre alt. Damals lebte er mit seiner Tante und seinem Onkel in Maliana. An diesem schicksalhaften Tag wollten er und sein Onkel in den Bergen Schutz suchen, gingen jedoch noch bei der Polizeistation vorbei, wo die Tante wartete.

Laut Polizei sollte abends der Strom abgestellt werden. Als aber um 21 Uhr das Rattern der Lastwagen und das Heulen der Hunde in den leeren Straßen von Maliana lauter wurde, brannte noch immer Licht. Erst kurz darauf erlosch es. Vermummte Männer stürmten die Polizeistation und forderten alle anwesenden Männer auf, nach draußen zu gehen. Olans Onkel ließ den Jungen mit seiner Tante und einer Gruppe von Frauen zurück. Fünf Minuten später hörten sie Schüsse und Schreie.

Heute ist Olan 25 Jahre alt. Er habe die Schreie seines Onkels in dieser Nacht vor 13 Jahren gehört, sagt er. Der Stromausfall dauerte nur eine halbe Stunde, aber die Frauen und Kinder durften erst im Morgengrauen hinaus in den Hof. Sie sahen, wie die Lastwagen davonfuhren, der Boden war blutgetränkt, aber Leichen waren nicht zu sehen. Olan fand die Sandalen seines Onkels in einer Blutlache. Seither hat er nie wieder von ihm gehört. Unterstützt von indonesischen Sicherheitskräften hatten Antiunabhängigkeitsmilizen in dieser Referendums­nacht versucht, die Macht zu übernehmen. Die Gewalt eskalierte. Nach einer Abstimmung im UN-Sicherheitsrat wurden im September UN-Friedenswächter eingesetzt.

Olans Geschichte ist eine von vielen. Balide Jail, ein ehemaliges Internierungslager für politische Gefangene, ist heute ein Menschenrechtszentrum mit einem immensen Archiv. Es bewahrt Zeugenaussagen und Geschichten auf, die von der Wahrheits- und Versöhnungskommission (CAVR) gesammelt wurden. Als das Zentrum 2003 eröffnet wurde, sagte der damalige Präsident von Ost-Timor, Xanana Gusmao: „Die CAVR sucht nicht nur nach der Wahrheit. Sie versucht, den Übergang vom Trauma zum Frieden in der Gesellschaft zu erleichtern.”

Einige Schritte in Richtung Versöhnung wurden unternommen. Beispielsweise startete die CAVR den „Community Reconciliation Process“, eine freiwillige Anhörung von weniger dramatischen Verbrechen. Fast 1400 Fälle wurden bereits abgeschlossen.

Doch es bleibt noch viel zu tun. Studien belegen, dass die meisten Ost-Timoresen, die die Besatzung überlebten, traumatische Erfahrungen gemacht haben. Schon im Jahr 2000 begann der Internationale Rat zur Rehabilitation von Folteropfern (IRCT), eine Organisa­tion mit Sitz in Dänemark, mit einem so genannten „community trauma mapping“, um die psychosozialen Bedürfnisse in Ost-Timor herauszufinden. In 13 Distrikten wurden Umfragen durchgeführt zu Traumatisierung, Gewalt, Folter, Symptomen der post-traumatischen Belastungsstörung (PTSD), zur Einschätzung der eigenen Gesundheit, dem Erholungspotential und zum Hilfesuchverhalten der Menschen. Die Ergebnisse deuten auf einen enormen Bedarf an Traumaberatung hin.

Daraufhin entwickelte der IRCT ein einjähriges bundesweites Programm insbesondere zur Behandlung von Kindern, da diese am schlimmsten betroffen waren. Man wollte herausfinden, wie die Timoresen es mit Diskussionen, kooperativen Lerngruppen, Kunst, Tagebuchschreiben und Rollenspielen schaffen könnten, ihre schrecklichen Erfahrungen zu verarbeiten. Wegen Infrastrukturproblemen wurde das Programm jedoch nicht vollständig umgesetzt.

Einige lokale und internationale Organisationen haben seither ähnliche Ansätze erprobt. Sie erstellten Lehrprogramme für Grundschullehrer mit Fokus auf Traumaverarbeitung und psychosoziale Erholung. Manche Initiativen konzentrierten sich auf die Stärkung von Frauen und ihren Netzwerken, andere setzten sich für Jugendliche, Veteranen und Menschen mit ernsthaften PTSD-Symptomen ein. Meist schulten sie lokale Berater, die traumatisierte Menschen in länd­lichen Gegenden betreuen sollten.

Ein Trauma ist jedoch nicht von heute auf morgen vergessen. Sämtliche Bemühungen wurden durch einen Kollaps des Gesundheitssystems nach dem Referendum zusätzlich erschwert. Einem Bericht für die UN-Übergangsregierung in Ost-Timor zufolge kehrten mehr als 80 Prozent des medizinisch ausgebildeten Personals nach Indonesien zurück. Nichtregierungsorganisationen versuchten daraufhin, die Grundversorgung zu übernehmen. Mittlerweile ist es Ost-Timor gelungen, wieder ein grundlegendes Gesundheitssystem aufzubauen. Dies war unter anderem durch ein medizinisches Lehrprogramm möglich, das von Kuba unterstützt wurde. Andere soziale Frustrationen aber wurden nicht angemessen angegangen.

Bleibende Sorgen

Die Menschen befürchten einen erneuten Ausbruch der Gewalt. 2006 hatten Wut und Enttäuschung der Sicherheitskräfte über die gefühlte Diskriminierung zu einer neuen Krise geführt. Während der darauf folgenden Unruhen flohen rund 100 000 Menschen.

Diese Flüchtlingsmisere war jedoch nicht mit der von 1999 vergleichbar, als der UN zufolge praktisch die gesamte Bevölkerung vertrieben wurde. Nach dem Referendum im August 1999 flüchteten rund 500 000 Menschen in die Berge. Weitere 240 000 flohen oder wurden in Lager nach West-Timor und an­dere Teile Indonesiens zwangsumgesiedelt.

Im Zuge eines Rückkehrerprogramms kehrten rund 220 000 von ihnen innerhalb von drei Jahren nach Ost-Timor zurück. Einige hundert jedoch leben immer noch in Camps in West-Timor. Sie leiden unter ihren persönlichen Traumata ebenso wie unter der Tatsache, „vergessen” worden zu sein von den poli­tischen Führern, derentwegen sie im Camp gelandet sind.

Vertreter der Zivilgesellschaft in Indonesien und Ost-Timor sehen diese Flüchtlinge als Gefahr. Viele von ihnen gehörten den Antiunabhängigkeitsmi­lizen an, den meisten klebt Blut an den Händen. Manche gehören sogar zur Spitze der Milizen. Man vermutet, dass sie Informationen haben über die­jenigen, die für Menschenrechtsverletzungen während der indonesischen Besatzung verantwortlich waren. Heute kämpfen sie um ihr Überleben und würden gerne nach Hause zurückkehren. Etliche Dorfälteste in Ost-Timor betonen jedoch, dass gewisse Flüchtlinge nicht willkommen sind. Ihre Familien und andere als harmlos eingestufte Personen hingegen wurden mit offenen Armen aufgenommen. Niemand weiß, was passieren würde, wenn diese Männer tatsächlich heimkehrten.

Nahe der Grenze in Atambua versucht eine Handvoll indonesischer Aktivisten mit geringsten Mitteln, Traumaarbeit mit den Flüchtlingen zu leisten. Sie möchten ihnen die Rückkehr ermöglichen und hoffen, so künftige Spannungen zu verhindern. Zudem fordern sie, dass sich ein internationales Tribunal mit den Verbrechen der Vergangenheit befasst.

Nach 1999 jedoch waren sich die Regierungen beider Länder einig, dass alle Fälle in Ost-Timor vor Gericht zu bringen seien. Ob ein internationales Tribunal besser geeignet wäre, ist ungewiss. Generell bevorzugt die internationale Gemeinschaft ein nationales Rechtswesen, da es sich um Themen von nationaler Relevanz handelt und zudem die Rechtsstaatlichkeit auf nationaler Ebene gestärkt werden muss.

Die Traumata sitzen tief. In einem wunderschön renovierten alten Gebäude nahe der Universität in Dili wurde kürzlich das „Archiv und Museum des Widerstands von Ost-Timor“ eröffnet. Es zeigt Bilder, Schriftstücke, Audio- und Video-Dokumente und Kunst. Die Ausstellung befasst sich mit dem Rückzug der ehemaligen Kolonialmacht Portugal im Jahr 1974 und den 25 Jahren indonesischer Besatzung, die ein Drittel der Bevölkerung Ost-Timors das Leben kostete. Die Auseinandersetzungen 1999 waren der Höhepunkt der Gewalt, aber ihr Anfang waren sie nicht.

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