Lederverarbeitung

Traditionsreiche Industrie unter Druck

Die meisten Schuhe und Lederwaren, die in Europa über den Ladentisch gehen, stammen aus Fabriken in Entwicklungs- und Schwellenländern. Auf den ersten Blick profitieren alle davon: Die Konsumenten in den reichen Nationen bekommen dank niedriger Produktionskosten günstige Waren, in der armen Welt gibt es Aufträge und Arbeit. Allerdings droht eine Abwärtsspirale. Um dem globalen Konkurrenzdruck standzuhalten und die Kosten niedrig zu halten, werden häufig ökologische und soziale Standards vernachlässigt. Auch für das Produktionsland Indien ist die Einbindung in den Weltmarkt daher zweischneidig.


[ Von Christian Dietsche und Nicole Reps ]

Im Zuge der Globalisierung gab es tiefgreifende Umbrüche in der internationalen Lederindustrie. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts wurde die Produktion von Leder und Lederwaren schrittweise aus Deutschland und anderen klassischen Industrienationen in Niedriglohnländer verlagert. Die indische Lederin­dus­trie profitierte von dieser Entwicklung in besonderem Maße. Mehr als 2,5 Millionen Menschen sind allein in diesem Sektor beschäftigt. Heute ist das Land Produktionsstandort großer europäischer Markenhersteller wie Deichmann, Gabor oder Ecco. Mit Exporteinnahmen von rund zwei Milliarden Euro jährlich steht Indien in der Lederindustrie nach China und Italien weltweit an dritter Stelle.

Das Ledergewerbe ist nicht nur ein bedeutender Industriezweig Indiens, sondern auch einer der umweltschädlichsten. Es fallen erhebliche Abwassermengen an, die mit Salzen, Lösungsmitteln und chromhaltigen Gerbstoffen belastet sind. Die Umweltgesetzgebung Indiens ist zwar formal ähnlich streng wie die europäischer Länder, aber ihre Einhaltung wird nur lückenhaft kontrolliert und durch Korruption unterminiert. In der nordindischen Industriestadt Kanpur werden die Schattenseiten der Lederproduktion besonders deutlich.

Billige Konsumgüter

Kanpur ist einer der bedeutendsten Standorte der indischen Lederwarenproduktion. Bereits während der Kolonialzeit verzeichnete das Gewerbe wegen des Bedarfs der britischen Armee ein enormes Wachstum. Heute ist der Ledersektor mit rund 90 000 Beschäftigten einer der wichtigsten Arbeitgeber in der mehr als vier Millionen Einwohner zählenden Stadt. In Kanpur werden – neben Herren- und Damenschuhen – vor allem Reitsportartikel und Sicherheitsschuhe produziert. Das dafür benötigte Leder stammt überwiegend aus örtlichen Gerbereien.

Die Lederindustrie Kanpurs ist vorwiegend exportorientiert ausgerichtet: Etwa 400 Hersteller beliefern Großhändler und Billiganbieter in Europa und Nordamerika. Oft geht es den Käufern ausschließlich um niedrige Preise; Wie produziert wird, spielt dabei keine Rolle. Um erfolgreich zu sein, bedarf es also weder moderner technischer Ausstattung noch besonders innovativer Produkte. Auch für das verwendete Leder existieren von Seiten der Importeure selten Vorgaben. Die Fertigungsbetriebe sehen daher keinen Grund, ihrerseits von den Gerbereien die Einhaltung von Standards zu verlangen. Daher werden Lederqualität und Umweltbelange häufig einem möglichst niedrigen Produktpreis untergeordnet. Der Kostendruck internationaler Billiganbieter wird auf diese Weise entlang der gesamten Lieferkette weitergereicht. So bleiben in Kanpur viele Gerbereien in einem frühindustriellen Stadium gefangen, das durch simple Fertigungstechnologien, schlechte Arbeitsbedingungen und extreme Umweltbelastung gekennzeichnet ist.

Die Gerbereien produzieren auf niedrigem technologischen Niveau und setzen Gerbchemikalien in ineffizient großen Mengen ein. Da auch die Kläranlagen nicht ordnungsgemäß betrieben werden, fließen die toxischen Abwässer meist ungehindert in den heiligen Fluss der Hindus, den Ganges. Teilweise werden die Abwässer auch zur Bewässerung in der Landwirtschaft genutzt. Dadurch ist das auf den lokalen Märkten verkaufte Obst und Gemüse stark kontaminiert. Mittlerweile sind zudem Chromrückstände im Trinkwasser der Stadt nachweisbar. Die Umweltverschmutzung hat daher gravierende gesundheitliche Folgen für die Bevölkerung.

Weltmarktimpulse

Trotz dieses Negativtrends sind in Kanpur vereinzelt auch positive Entwicklungen zu verzeichnen. Insbesondere die Lieferanten renommierter Markenunternehmen müssen umfangreiche Qualitätsanforderungen einhalten. Um den hohen Ansprüchen ihrer Kunden gerecht zu werden, sind die Produzenten von Schuhen und Lederwaren gezwungen, Fertigungsprozesse zu modernisieren und eine hohe Produktqualität sicherzustellen. Durch die Zusammenarbeit mit internationalen Auftraggebern erhalten die Betriebe Zugang zu verfahrenstechnischem Knowhow und werden bei der Modernisierung ihrer Produktionsanlagen unterstützt.

Die globalen Markenanbieter legen nicht nur Wert auf eine hochwertige Verarbeitung der Produkte, sie achten auch auf die Qualität des verwendeten Leders. Teilweise lassen die Abnehmer den Produktionsprozess in den Gerbereien von eigenen Mitarbeitern überprüfen oder verpflichten die Lederproduzenten dazu, sich von externen Prüfinstituten Zertifikate ausstellen zu lassen. Die Gerbereien müssen dann nachweisen, dass ihr Leder keine erhöhten Schadstoffwerte aufweist. Um diese strikten Standards einzuhalten, werden unter anderem Gerbmittel sparsamer und effizienter eingesetzt. Als Nebeneffekt der hohen Qualitätsstandards für das Leder verbessern sich damit auch die örtlichen Umweltbedingungen.

Für große Markenunternehmen reicht es zudem häufig nicht mehr aus, eine hohe Produktqualität zu gewährleisten. Denn in den westlichen Konsummärkten rücken auch Themen wie Umweltverschmutzung und Kinderarbeit in den Blick der Öffentlichkeit. Medienberichte und Kampagnen von kritischen Organisationen setzen Markenanbieter unter Druck. Immer häufiger versuchen diese daher auch direkt auf die sozialen und ökologischen Bedingungen in Indien einzuwirken. Dabei führen sie beispielsweise Sozial­audits durch oder stellen sicher, dass toxische Abwässer aufbereitet werden.

Die Einbindung der Lederindustrie Kanpurs in globale Märkte kann sowohl zu technologischen Entwicklungsimpulsen und Produktverbesserungen als auch zu ökologischem und sozialem Fortschritt führen. Allerdings bleibt eine starke Abhängigkeit der Produzenten von ihren internationalen Auftraggebern bestehen. Eine eigenständige Etablierung auf dem Weltmarkt ist für sie fast unmöglich. Letztlich bleiben die Fertigungsbetriebe für die internationalen Auftraggeber jederzeit austauschbare Lieferanten. Denn die besonders wichtigen und gleichzeitig profitablen Schritte der Wertschöpfung – Design, Produktentwicklung, Vermarktung – verbleiben in der Hand der globalen Markenunternehmen.

Für die lokalen Hersteller ist es daher schwierig, ihre Position im Weltmarkt auszubauen. Sie können ihre im internationalen Markt gewonnenen Erfahrungen allerdings auf dem indischen Binnenmarkt einbringen. Die kaufkräftige Mittelschicht südlich des Himalaja wächst rasant – und entsprechend auch die Nachfrage nach qualitativ hochwertigen Schuhen. Lokale Firmen, die im inter­na­tio­nalen Markt Produkt- und Prozess­ve­rbesserungen erreicht haben, können dieses wachsende Produktsegment erfolgreich bedienen. Dabei haben diese Produzenten einen Wettbewerbsvorteil gegenüber dem Großteil der alteingesessenen Hersteller, die vornehmlich auf die Produktion einfacher, preisgünstiger Schuhe spezialisiert sind.

Zukunftsaussichten

Das Beispiel der Lederwarenproduktion in Kanpur verdeutlicht, dass von der Einbindung in globale Märkte positive Impulse für traditionelle Industriezweige in Entwicklungsländern ausgehen können. Von den daraus resultierenden ökologischen und sozialen Fortschritten profitiert jedoch nur ein kleiner Teil der Lederwarenindustrie Kanpurs. Nach Einschätzung des regionalen Gerbereiverbandes produzieren lediglich zehn bis 15 Prozent der Gerbereien Kanpurs auf hohem technologischen Niveau. Der Großteil der Unternehmen positioniert sich nach wie vor mit Billigprodukten auf dem Markt – ökonomisch erfolgreich, aber mit dramatischen Umweltfolgen.

Die hohen qualitativen Anforderungen der Markenanbieter können ein wichtiger Antrieb für die Modernisierung der Lederindustrie sein. Eine umfassende Verbesserung der lokalen Situation kann allerdings nur dann erreicht werden, wenn in der gesamten Branche ein Umdenken einsetzt. Dies wird nur geschehen, wenn die Verbraucher ein Bewusstsein für die sozialen und ökologischen Kosten der Produktion entwickeln. Die Nachfrage nach Billigprodukten geht zu Lasten von Mensch und Umwelt. Es liegt in der Hand der Kon­sumenten, diesem Trend entgegenzuwirken und von den Unternehmen nachhaltig pro­duzierte Ware einzu­for­dern.

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