Editorial

Berechtigte Forderungen

Ich werde nie vergessen, wie ein syrischer Botschafter vor einigen Jahren in Berlin bei einer Tagung über menschliche Entwicklung in der arabischen Welt sagte: „Wir versuchen, eine Zivilgesellschaft zu schaffen, der wir vertrauen können.“ Eine junge ägyptische Sozialwissenschaftlerin widersprach sofort vehement: „Das geht nicht, die Zivilgesellschaft muss frei sein.“ Das stimmt – und Syriens aktuelle Tragödie zeigt, dass es dem Assad-Regime nicht gelungen ist, das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen.

Von Hans Dembowski

Wie seinerzeit der Botschafter, so versteht auch Chinas Kommunistische Partei den Wert der Zivilgesellschaft. Sie wünscht sich mehr bürgerschaftliches Engagement – es sei denn, dieses richte sich gegen die Regierung. Wer sich aktive nichtstaatliche Organisationen wünscht, täte sicherlich gut daran, Bürger nicht mit Geheimdiensten auszuspionieren und Dissidenten zu unterdrücken.

Leider behaupten mächtige Personen in vielen Ländern, zivilgesellschaftliches Engagement sei eine westliche Idee und passe nicht zur heimischen Kultur. Selbstzufrieden warnen solche Leute vor „ausländischer“ Einflussnahme. Sicherlich gibt es unseriöse nichtstaatliche Organisationen, aber wenn Vereine und Verbände nicht echte Bedürfnisse ansprechen, werden sie kaum gesellschaftlichen Einfluss entfalten. Die Grundlage der Zivilgesellschaft ist, dass Menschen sich unabhängig vom Staat zusammentun und mit friedlichen Mitteln ihre Interessen verfolgen. Ansatzweise passiert das selbst in totalitären Systemen, denn ein Mindestmaß an Vernetzung gibt es überall. Um wirklich stark zu werden, braucht die Zivilgesellschaft aber Grundrechte wie die Versammlungs-, Meinungs- und Vereinigungsfreiheit.

Demokratische Systeme profitieren davon auf zwei verschiedene Weisen:
– Unabhängige Organisationen kümmern sich um die Bedürfnisse ihrer Mitglieder. Sie sind letztlich Selbsthilfegruppen. Das gilt für Religionsgemeinschaften ebenso wie für Sportvereine. Sie prägen individuelle Einstellungen und Verhalten.
– Andererseits vertreten unabhängige Organisationen Interessen in der Öffentlichkeit und tragen so zum politischen Leben bei. Einzelne Individuen haben meist wenig Einfluss. Sie müssen sich organisieren, um wahrgenommen zu werden und Druck auf staatliche Institutionen zu machen. Auf diese Weise können selbst marginalisierte Menschen Gehör finden (siehe auch unsere Kolumne „Heutzutage“ über Prostituierte in Indien in dieser Ausgabe).

Wenn Menschen sich zusammentun, entscheiden sie selbst, mit welchen Zielen sie das tun und wie intensiv sie sich persönlich der Sache widmen wollen. Jedenfalls können unabhängige Organisationen stärker als andere Institutionen Einfluss auf die persönliche Lebensführung ausüben und kulturellen Wandel vorantreiben. In gewissem Maß sind Zivilgesellschaft und Privatwirtschaft derweil zwei Seiten derselben Medaille. Beide beruhen darauf, dass Menschen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. In der Wirtschaft geht es aber um persönliche Vorteile, während zivilgesellschaftlicher Diskurs eher um das Gemeinwohl kreist. Beides ist nötig.

Wenn Regierungen wissen wollen, was ihre Bürger umtreibt, müssen sie nur eine freie Zivilgesellschaft zulassen. Deren Kritik mag manchmal unbequem sein, aber es bringt nichts, sie zu unterdrücken. Langfristig beruhen sozialer Frieden und politische Stabilität auf freier Debatte, nicht auf Unterdrückung berechtigter Forderungen. Syrien lernt diese Lektion gerade auf besonders schmerzhafte Weise.

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