Kommentar

Zum Staatsmann in 100 Tagen

Den Nationalfeiertag am 6. Oktober nutzte Ägyptens neuer Präsident Muhammad Mursi, um vor knapp 75 000 Zuhörern im internationalen Stadion von Kairo eine positive 100-Tage-Bilanz zu ziehen. Seine Kritiker sehen alles ganz anders.

Von Nina Prasch

Erwartungsgemäß fiel Mursis eigene Bilanz überwiegend positiv aus. Er nannte sogar Quoten, zu denen er wichtige Ziele erreicht haben will: Sicherheit zu 70 Prozent, Verkehr zu 60 Prozent und Sauberkeit zu 40 Prozent. Er ging ins Detail und suggerierte damit persönliche Kenntnis der Probleme der einfachen Leute. Seine Gegner konstatieren dagegen Versagen auf ganzer Linie. Die von Aktivisten betriebene Website morsimeter.com kommt zu dem Ergebnis, es seien lediglich 5 von 64 Zielen erreicht worden und 58 Prozent der Bevölkerung seien mit dem Staatschef unzufrieden.

Die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte. Unterschiedliche Beurteilungen sind demokratische Normalität. In Ägypten sind sie aber leider auch Ausdruck einer stark ideologisch und wenig inhaltlich geprägten Debatte. Das liberal-säkulare Lager neigt zur Boykotthaltung, um die „Brüderisierung“ des Landes zu verhindern. Mursi war der Kandidat der Muslimbrüder.

Die liberale Wafd-Partei weigert sich, unter Mursi Minister zu stellen. Viele liberale Mitglieder der Verfassunggebenden Versammlung nehmen schon lange an deren Sitzungen nicht mehr teil. Das nichtislamistische Lager erkennt die Botschaft aller bisherigen Wahlergebnisse nicht an, dass nämlich die islamistisch geprägten Kräfte in Ägypten derzeit die legitime Mehrheit bilden. Stattdessen ist ständig von Wahlfälschung seitens der Muslimbrüder oder einem Pakt mit dem Militärrat die Rede. Dabei ist Mursi ohne Zweifel rechtmäßig im Amt.

Die liberal-säkularen Kräfte täten gut daran, an der neuen Verfassung mitzuwirken und dazu beizutragen, die innenpolitische Lage zu entspannen. Ägypten braucht einen sachbezogenen Diskurs über tatsächlich anstehende politische Entscheidungen. Der Boykott der Verfassunggebenden Versammlung und die Negierung der realen Machtverhältnisse im Land bringen wenig. Leider marginalisiert sich das nichtislamistische Spektrum damit selbst. Dabei hätte es nicht nur die Aufgabe, sondern sogar eine echte Chance, autoritären Tendenzen entgegenzuwirken. Allerdings wird sich auch Mursi selbst daran messen lassen müssen, ob es ihm gelingt, der „Präsident aller Ägypter“ zu werden, wie er versprochen hat. Bisher ist er dies noch nicht.

Der Wahlsieg Mursis im Sommer stellt zweifellos den entscheidenden Wendepunkt seit der Revolution dar. Zwar versuchte der Militärrat, seine Macht schon im Voraus zu schmälern. Aber Mursi gelang es mit zügigen, mutigen Amtshandlungen, seine Position zu festigen. Dazu gehörten die Wiedereinsetzung des aufgelösten Parlaments und die Entmachtung der Spitze des Militärrates. Ohne ernste innenpolitische Krise hat er sich alle Befugnisse zurückgeholt, die der Militärrat ihm nehmen wollte. Das war eine beachtliche Leistung.

Auch außenpolitisch hat Mursi Akzente gesetzt. So war sein erstes außerarabisches Reiseziel nicht etwa Washington, sondern Beijing. Seine eindeutige Verurteilung des syrischen Regimes in seiner Rede in Teheran brachte ihm nicht nur in Ägypten viel Zustimmung ein. Westliche Stimmen kritisierten Mursi indessen für sein 36-stündiges Schweigen zu den gewaltsamen Krawallen vor der US-Botschaft anlässlich der Proteste gegen den Film „The Innocence of Muslims“. Viele meinen, seine Verurteilung der Gewalt sei auch dann noch zu milde ausgefallen. Diese Kritik ist gerechtfertigt. Der Schluss, Mursi sei ein Radikaler, der den Ausschreitungen mit Wohlwollen zugesehen habe, wäre aber falsch.

Die Auseinandersetzung zwischen dem eher pragmatischen Islamismus der Muslimbrüder mit dem Fundamentalismus von Salafisten und Jihadisten hat erst begonnen. Mit der kürzlich erfolgten Verkündung von 14 Todesurteilen gegen radikale Islamisten, die 2011 Angriffe auf die ägyptische Armee auf dem Sinai verübt haben, und der ersten Anwendung des Blasphemiegesetzes seit der Revolution gegen einen Salafisten, der eine Bibel verbrannt hatte, setzt sich Mursi deutlich von den fundamentalistischen Kräften ab.

Mursi ist kein Radikaler. Für den Westen könnte er beispielsweise mit Blick auf Syrien ein wichtiger Partner sein. Ein Gefolgsmann des Westens wird er aber nicht werden.

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