Ethik

Ethisch korrekt

Beim engen Kontakt von Forschern und Menschen aus anderen Kulturen kann es zu ethischen Konflikten kommen. Dies gilt noch mehr für die Entwicklungszusammenarbeit. Das zuständige Bundesministerium und seine Durchführungsorganisationen diskutieren ethische Leitlinien für die Praxis. Von Frank Bliss
Interviewer besprechen ihre Fragebögen in Tadschikistan. Bliss Interviewer besprechen ihre Fragebögen in Tadschikistan.

Entwicklungszusammenarbeit (EZ) gilt in ethischer Hinsicht als positiv – und zwar ganz besonders dann, wenn sie weder mit wirtschaftlichen noch mit außenpolitischen Zielen verbunden ist, sondern ausschließlich und selbstlos den Menschen helfen will. Allerdings besteht zwischen den Geldgebern und der Bevölkerung, der geholfen werden soll, eine asymmetrische Machtbeziehung: Es gibt den Geber, der oft mit großen Idealen und viel Geld in das Partnerland kommt. Ihm gegenüber stehen die Landesbevölkerung oder die Partnerorganisationen, die das Geld benötigen. Für den Geber gilt der Grundsatz, sich den Menschen gegenüber, sprich den Armen und Benachteiligten, ethisch korrekt zu verhalten.

Im konkreten Fall stehen sich aber häufig die Interessen einer Geberorganisation und die der beteiligten Fachleute, etwa der Projektmitarbeiter oder Gutachter, gegenüber. Erstere fordert in der Regel eine schnelle und effektive Umsetzung von Projekten. Letztere müssen vor Ort mit der Bevölkerung langfristig auskommen und viele von ihnen fühlen sich ethischen Standards verpflichtet, die ihnen ihre Berufsorganisationen (etwa Ärztevereinigung oder die Arbeitsgemeinschaft Entwicklungsethnologie) vorgeben oder zumindest empfehlen.

Vor diesem Hintergrund können zahlreiche ethische Dilemmata entstehen. So fordern die meisten Geberorganisationen und auch Consulting-Firmen in ihren Verträgen Verschwiegenheit. Die Mitarbeiter vor Ort dürfen demnach keine Interna ausplaudern oder ohne Genehmigung der Auftraggeber Veröffentlichungen über ihre Tätigkeit vornehmen. Sie geraten aber in eine Zwickmühle, wenn zum Beispiel im Rahmen eines Gutachtens deutlich wird, dass die durchgeführte Maßnahme elementare Menschenrechte der Zielgruppe verletzt und die Auftraggeber dennoch ohne Änderungen daran festhalten wollen. Der Grund dafür kann Desinteresse sein oder die Angst, vertragliche Verpflichtungen nicht einhalten zu können.

Ein anderer Konfliktfall: In einem Land müssen zur Durchführung eines Infrastrukturprojektes Tausende von Menschen umgesiedelt werden. Das Projekt wird von einer Geberorganisation unterstützt. Es wird jedoch deutlich, dass die Regierung, die in Sachen Menschenrechten als wenig engagiert gilt, ihren Verpflichtungen zu einer behutsamen, partizipativen Vorgehensweise und einer vollen Entschädigung der Menschen nicht nachkommt. In der Geberorganisation kommt es zum Streit zwischen Mitarbeitern, die das Projekt aus ethischen Gründen nicht durchführen wollen, und der Leitung, die an den Plänen festhalten möchte. Auch hier sitzen die betroffenen Mitarbeiter zwischen den Stühlen.


Ethische Dilemmata betreffen aber nicht nur die „Feldarbeiter“ der EZ. Mancher Ministerialbeamte einer Gebernation wird erhebliche Probleme haben, wenn er bei Regierungsverhandlungen genau mit jenen Ministern konferieren muss, die für die Armut in ihrem Land mitverantwortlich sind, weil sie hemmungslos Hilfsmittel stehlen und die Staatskasse plündern. Viele würden gerne aufstehen und ihrem Gegenüber offen die Meinung sagen, wie dies vor 15 Jahren ein UN-Mitarbeiter in einem westafrikanischen Land getan hat. Aber wäre damit dem Ziel der Armutsbekämpfung im Land genützt – oder führt Kooperation mit den Gesprächspartnern vielleicht doch zu einer besseren Politik? Auf solche Fragen wollen die ethischen Leitlinien Antworten geben, die in der EZ tätige Ethnologen formuliert haben.


Erweiterte Leitlinien

Die Arbeitsgemeinschaft Entwicklungs­ethnologie (AGEE) hat die erste Fassung der Leitlinien im Jahr 2000 formuliert. Sie behandeln Grundsatzfragen, wie zum Beispiel Entwicklung oder Partizipation zu definieren sind. Sie geben aber auch praktische Anleitung, was respektvoller Umgang mit den Menschen, denen man täglich begegnet, erfordert oder wie mit dem Datenschutz umzugehen ist.

Die AGEE hat die ethischen Leitlinien nach mehr als zehn Jahren praktischer Erfahrung erweitert. Ziel war es, eine Vorlage zu entwickeln, die nicht nur Ethnologen, sondern allen an Entwicklungspolitik Beteiligten Anregungen für ethisches Handeln in der Praxis liefert. Bei Bedarf sollen sie als Grundlage für Organisationen dienen, die eigene Leitlinien erarbeiten wollen.  


In diesem Jahr beschäftigte sich auch der Innovations­beirat des Bundesministe­riums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) mit dem Thema. Einhellige Meinung war, dass das ­ak­­tualisierte Papier grundsätz­liche Bedeutung hat und dass die Anregungen im BMZ und in den  Durchführungsorganisationen aufgegriffen werden sollten.

Die erweiterten Leitlinien beschäftigen sich zum Beispiel mit folgender grundsätzlicher Frage, die sich viele Mitarbeiter sicher schon wiederholt gestellt haben: Kann Entwicklungs­zusammenarbeit neutral sein, wenn es um wirtschaftliche und politische Interessen in einem Land geht, oder muss sie nicht zwingend Partei ergreifen für ihre Zielgruppen? Die Zielgruppe sind die Armen, Diskriminierten oder Menschen, denen aus welchen Gründen auch immer Mitwirkungschancen vorenthalten werden.

Wichtig ist auch das Thema „global re­sponsibility“: Bei den Entwicklungsmaßnahmen werden die Bedürfnisse der Menschen in den Partnerländern als Maßstab genommen. Aber müssen diese nicht im Sinne einer gemeinsamen, globalen Verantwortung soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit vereinen – und zwar auch dann, wenn die Betroffenen selbst zunächst nur Ersteres als Ziel sehen?

Die ethischen Leitlinien wenden sich gegen einen kulturellen Relativismus. Zwar muss gerade mit Blick auf traditionelle Gesellschaften Respekt auch kollektiven Rechten gegenüber aufgebracht werden. Diese haben sich im Ressourcenmanagement als wichtig erwiesen und sichern nicht selten auch heute noch sehr erfolgreich so­ziale Risiken ab. Jedoch müssen diese Kollektivrechte ihre Grenze dort finden, wo die Menschenrechte einzelner Angehöriger der Gesellschaft missachtet werden, so lautet der Tenor des Papiers.

Die universelle Sicht der Menschenrechte wird nicht in jedem kulturellen Kontext geteilt. Dennoch stellen die UN-Menschenrechtskataloge eine Antwort der Menschheit auf eine gemeinsame Geschichte zahlloser Opfer und universellen Leids dar, aus deren Erfahrung der gemeinsame Wille gewachsen ist, aller Vergewaltigung der Menschen ein Ende zu setzen (Johannes Müller 2002). Menschenrechtsverletzungen können daher nicht als „kulturelle Eigenheiten“ angesehen und hingenommen werden.


Institutioneller ­Kontext

Die ethischen Leitlinien der AGEE beziehen auch zu Konflikten Position, die sich im institutionellen Kontext ergeben können. Wem gelten beispielsweise Loyalitäten? Hat immer die „corporate identity“ Vorrang vor der „social responsibility“? In die Praxis übersetzt heißt das: Ist der Mitarbeiter einer Agency beispielsweise zum Stillhalten verpflichtet, auch wenn seine Vorgesetzten Maßnahmen beauftragen, die benachteiligten Menschen erheblichen Schaden zufügen könnten? Oder muss er in irgendeiner Weise einschreiten?

Ethische Vorgaben einer Organisation kollidieren häufig mit den Leitlinien von Berufsverbänden. Bei Ärzten, die im Auftrag einer EZ-Organisation tätig sind, mag die Akzeptanz des „Hippokratischen Eids“ vielleicht noch Allgemeingut sein. Soziologen oder Ethnologen stehen in der ethischen Pflicht des „Do-no-harm“-Prinzips. Wie sollen sie dieses verfolgen, wenn ökonomische Interessen wichtiger erscheinen? Zum Beispiel kann ein Staat das Ziel verfolgen, einen Staudamm zu bauen, um die nationale Stromversorgung sicherzustellen. Dies kann dazu führen, dass die dort lebenden Menschen für das Bauvorhaben ihre Heimat verlassen und umgesiedelt werden müssen. Wer sich für die Staudammgegner einsetzt, kann erhebliche berufliche Nachteile erleiden.


Wenn möglichst viele Beteiligte die ethischen Leitlinien akzeptieren, hat dies also auch eine berufliche Konsequenz. Denn je mehr Entwicklungsfachleute die Prinzipien akzeptieren, desto schwerer wird es, die zu benachteiligen, denen es nicht egal ist, wie mit der Bevölkerung in den Partnerländern umgegangen wird.

 

Frank Bliss ist Professor für Entwicklungsethnologie an der Universität Hamburg und Mitinhaber des entwicklungspolitischen Gutachterbüros Bliss & Gaesing. bliss.gaesing@t-online.de

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