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Schlechte Zeiten für Behinderte

Der Sternberg bei Ramallah in Palästina ist ein Rehabilitations-Zentrum für körperlich und geistig behinderte Kinder und Jugendliche. Das Ziel ist es, die Behinderten in den häuslichen Tagesablauf und das Dorfgeschehen zu integrieren. Kern der Rehabilitationsarbeit ist neben der Sonderschule mit Kunst- und Musiktherapie die intensive Aufklärung und der Abbau von Vorurteilen.


[ Sumaya Farhat-Naser ]

Wenn eine Frau in Palästina ein behindertes Kind zur Welt bringt, sehen das die Verwandten oft als Schande oder als Strafe Gottes. Manche glauben auch, der Teufel habe seine Hand im Spiel oder Zauber und böse Geister seien am Werk gewesen. Daher neigen betroffene Familien dazu, ihre behinderten Kinder zu verstecken. Andere weigern sich, einzugestehen, dass ein Kind eine Behinderung hat und befürchten, dass niemand dessen Schwestern heiraten könnte.

Ein gutes Maß an Kenntnis, Menschlichkeit und Feingefühl ist nötig, um betroffene Familien davon zu überzeugen, dass sie sich ihrer behinderten Kinder annehmen und sie versorgen. Der Islam verweist ausdrücklich auf das Mitgefühl für Behinderte und spricht von der Pflicht sie anzunehmen, zu pflegen und ihnen zu helfen.

Nach mehr als 40 Jahren Militärbesatzung ist ein normales Leben in Palästina kaum möglich. Alte wie junge Menschen konnten und können auch heute meist nur das tun, was am allernötigsten ist. Es bleibt weiterhin wenig Raum für Kulturelles, für Ruhe, Vergnügen, Entwicklung oder ganz einfach für ein normales Leben. Viele Menschen im Land – Kinder wie Erwachsene – sind traumatisiert und kapseln sich von anderen ab. Sie wollen fliehen und fühlen sich verfolgt und bedroht.

In Palästina leben die Menschen in ständiger Alarmbereitschaft, das Schlimmste erwartend, auf eine Beruhigung der Lage hoffend. Sie wollen neu beginnen, wünschen sich, wieder atmen zu dürfen. Diese Situation ist zermürbend und raubt vielen die Energie zu arbeiten und kreativ zu sein.

Auch was Ausbildung und Erziehung angeht, hat sich vieles verschlechtert. Psychische Zersetzung ist in der gesamten Gesellschaft zu beobachten. Die bedrückende Gesamtlage ist selbstverständlich gerade für Behinderte von Nachteil: Sie erfahren nun erst recht nicht die Aufmerksamkeit, die sie bräuchten und auf die sie ein Anrecht hätten.

Das Zentrum am Sternberg versucht dem entgegen zu wirken. Täglich kommen mehr als 50 behinderte Kinder und Jugendliche aus den umliegenden Dörfern in die Sonderschule, um an Rehabilitationsprogrammen teilzunehmen oder eine Berufsausbildung zu machen. Sie lernen, spielen, trainieren, bekommen Physiotherapie, malen und singen. Die warme Mittagsmahlzeit ist – über die Nahrungssicherung hinaus – ein Gemeinschaftsritual, das ihnen hilft, die Gemeinschaft empfinden zu lernen und auch Zuhause mit der Familie am Tisch zu essen.

Um sich für die Belange der Behinderten einzusetzen, bedarf es aufgeweckter, sonderpädagogisch ausgebildeter Fachkräfte und anderer verantwortungsbewusster Menschen – an genau diesen aber fehlt es. Mehr als 500 Straßensperren und die Mauer, die alle Städte und Orte in den besetzten Gebieten voneinander trennt, berauben die Bevölkerung Palästinas des Menschenrechts zu planen und sich zu bewegen. Für eine Strecke von zehn Minuten braucht man mehr als eine, für einen Weg, der normalerweise in einer Stunde zu machen wäre, drei Stunden.

Die Kinder, die den Sternberg besuchen, kommen aus fünf Dörfern. In diesen und vier weiteren kleinen Orten wurden 860 Behinderte gezählt. Tatsächlich werden es wohl mindestens doppelt so viele sein. Ein Grund für diese hohen Zahlen ist gewiss, dass hier oft Verwandte untereinander heiraten.

Permanente Unsicherheit
Täglich muss man bangen, ob die Kinder und Jugendlichen durch den Check Point Atara durchgelassen werden. Verzögerungen von ein bis zwei Stunden für den Hin- und Rückweg werden stets einkalkuliert – das bedeutet, dass auch die 38 Mitarbeiter nie genau wissen, wann sie nach Hause kommen. Also leben auch deren Familien in ständiger Ungewissheit. Oft müssen die Behinderten lange im Bus an der Sperre warten. Sie werden unruhig und brauchen eine extra Begleitung, die sie unter Kontrolle hält.

Ihre Familien machen sich deshalb große Sorgen. Manche zögern sogar, ihre behinderten Kinder weiter auf den Sternberg zu schicken – aus Angst, sie könnten sich nicht retten oder angemessen reagieren, wenn Gewalt ausbricht. In diesen Fällen ist es wichtig, häufigere Hausbesuche zu machen, um die Familien zu beruhigen und sie erneut aufzuklären.

Das Leben ist ohnehin nicht einfach – unter Militärbesatzung wird alles noch mühsamer. Die Produktivität sinkt, man verliert Zeit, Lust und Kräfte nehmen ab. Nerven und Gemüt leiden besonders, denn man kann nie wissen, wie es weitergeht, wann, und ob jemand irgendwo ankommen wird oder nicht. Für jede Aktivität muss es eine Alternativplanung geben – letztendlich sind alle froh, wenn sie doch wenigstens die Hälfte ihrer Pläne umsetzen können, was aber selten der Realität entspricht. Daher ist es sehr wichtig, die Mitarbeiter zu coachen und zu fördern – um sie zu stärken und dafür zu sorgen, dass sie die Motivation nicht verlieren.

Dem Sternberg-Zentrum geht es darum, Behinderte möglichst in ihren Heimatorten zu integrieren. So werden in zentral gelegenen Dörfern mit Hilfe der lokalen Gemeinde in Schulen, Kindergärten, Jugendclubs oder bei Frauenorganisationen „Ressourcen-Räume“ als Treffpunkte eingerichtet. Dorfkomitees, die Verantwortung für Behinderte übernehmen sollen, werden gegründet. Dabei werden sie von Mitarbeitern des Sternbergs, der Medical Relief Organisation und von Mitarbeitern aus dem Dorf begleitet und ausgebildet.

Die Rehabilitationsarbeit soll dazu beitragen, die Einstellung zu Behinderung zu verändern. Sie soll Menschen mit einer Behinderung ein besseres Image verschaffen, Vorteile abbauen und ihre Lebensqualität verbessern, indem man ihnen hilft, unabhängiger und selbstständiger zu werden. Das geschieht unter anderem durch Förderung von Früherkennung und Frühintervention, Mobilisierung der lokalen Gemeinschaft – indem Dorf-Komitees eingerichtet werden, die sich engagieren und die Behindertenarbeit im Dorf mittragen – und schließlich Stärkung der Kapazitäten durch Fortbildung von Mitarbeitern und Familienangehörigen.

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