Die Autorität der Ältesten

Libyens erstaunlich friedlicher Alltag

Im September kam eine internationale Konferenz in Madrid zu dem Schluss, dass keine Militärintervention den aktuellen Unruhen in Libyen beikommen kann. Libyer werden ihre Probleme selbst lösen müssen.
Wracks an der Küste von Zuwara, Libyen. Muhammad Ali Wracks an der Küste von Zuwara, Libyen.

In Madrid verhandelten Vertreter der offiziellen libyschen Regierung, der Nachbarländer, europäischer Staaten sowie der EU und der UN, aber die Debatte führte zu keinem Friedensplan, der Verständigung herbeiführen könnte. Es war vermutlich ein Fehler, die libysche Gegenregierung, die es auch gibt, nicht einzuladen. Zum Redaktionsschluss von E+Z/D+C Ende September hieß es, die beiden Regierungen würden bald Gespräche aufnehmen. Das ist nötig und wird hoffentlich zum Erfolg führen.

Niemand in Libyen hat die europäische Intervention vergessen, die mit einem eindeutigen Mandat des UN-Sicherheitsrats 2011 den Aufstand gegen den Diktator Muammar al-Gaddafi unterstützte. Ohne die NATO-Bomben wäre die Revolution wohl gescheitert. Danach gab es friedliche, demokratische und transparente Wahlen. Dennoch existieren handlungsfähige demokratische Institutionen bisher nur auf dem Papier. Gewaltsame Machtkämpfe fordern immer wieder Menschenleben.

2012 wurde der Allgemeine Nationale Rat als Übergangsparlament gewählt. Bis zur Wahl einer echten Regierung sollte er das Land führen. Die Wähler gaben ihre Stimme seinerzeit meist Stammesangehörigen. Da viele Hoffnungen überzogen waren, war Enttäuschung unvermeidlich.

Demokratie entsteht nicht über Nacht. Sie muss Baustein für Baustein errichtet werden. Unterschiedliche Instanzen müssen einander kontrollieren, und die Verfahren, die Legitimität begründen, erfordern Zeit. Viele Libyer hatten jedoch erwartet, alles würde schnell besser werden und Entscheidungen nur noch in ihrem Sinne fallen. Freiheit von Diktatur bedeutet aber weder, dass jeder seine Vorstellungen durchsetzt, noch dass ökonomischer Fortschritt sofort einsetzt.

Da es keine wirkungsmächtige Regierung gab, mobilisierten einflussreiche Akteure weiter ihre Leute – und zwar abermals entlang Stammesidentitäten. Ihre Milizen geraten immer wieder aneinander. Die Kontrolle von Orten mit ökonomischer Relevanz interessiert sie besonders. Umkämpft sind Häfen, Ölfelder oder – in den vergangenen Monaten – der wichtigste Flughafen.

Einige westliche Beobachter neigen dazu „Islamisten“ von „Anti-Islamisten“ zu unterscheiden. Diese Dichotomie passt aber nicht auf Libyen. Allianzen dort beruhen mit größerer Wahrscheinlichkeit auf regionalen Bindungen und Verwandtschaft als auf politischen oder gar religiösen Weltanschauungen.

Es gibt haufenweise Waffen. Gaddafi hatte das Land massiv aufgerüstet, und Milizen verfügen nun über die ehemaligen Militärdepots. Besucher berichten, es sei nicht ungewöhnlich, auf den Straßen Zivilisten mit Maschinenpistolen oder sogar Panzerfäusten zu sehen. Die Milizen haben schwere Waffen wie Panzer und Raketen. Derweil bleiben Raubüberfälle und andere Formen von gewöhnlicher Kriminalität selten. Libyer sagen, der Alltag sei seit der Revolution für die meisten Menschen erstaunlich friedlich. Auf der lokalen Ebene sorgen Stammes- und Verwandtschaftsloyalitäten für Ruhe.

Die meisten Kampfverbände agieren in klar definierten Territorien. Gewalt bricht aus, wenn zwei Stämme denselben Ort beanspruchen. In solchen Fällen gelingt es aber oft den Stammesältesten, eine Lösung innerhalb von ein paar Tagen auszuhandeln. Die jungen Kämpfer akzeptieren die Autorität der Ältesten. Die Stammesnetzwerke beruhen auf Kompromiss und Konsens.

Es gibt fanatische Dschihadisten, aber die Leute sagen, diese seien keine Libyer. Diese Kämpfer richten mit großer Gewalt und gezielten Morden Unheil an, aber sie gelten bislang nicht als kohärente politische Kraft. Die in Libyen üblichen Verhandlungsmethoden greifen bei ihnen aber nicht, weil die Ausländer die Autorität der Stammesältesten nicht respektieren und auch gar nicht verstehen. Die politische Bedeutung der Dschihadisten erscheint vielen Libyern zwar als gering, aber die radikalen Kämpfer schaffen Chaos und bringen immer wieder labile örtliche Machtbalancen aus dem Lot.

Der Alltag verläuft für viele Libyer seit der Revolution aber erstaunlich friedlich, obwohl die Regierung schwach ist und staatliche Strukturen fragil bleiben. Meistens gelingt es aber den Stämmen, eine gewisse Stabilität zu erhalten. Dazu trägt bei, dass die meisten Libyer nicht arm sind, sondern massenhaft weiter von Öleinnahmen profitieren. Während in den meisten Ländern des arabischen Frühlings wirtschaftliche Not eine Antriebsfeder des Aufstands war, ging es in Libyen von Anfang an um politische Freiheit.

Libyer werden ihre Probleme selbst lösen müssen, und das kann nicht schnell gehen. Die informelle Autorität der Stammesältesten ist wertvoll und darf nicht unterschätzt werden, sie ersetzt aber keinen funktionierenden Staat und garantiert ganz bestimmt keine individuellen Freiheits- und Menschenrechte. Auf längere Sicht braucht das Land einen modernen Staat mit soliden Institutionen. Was derlei angeht, kann Rat aus dem Ausland wertvoll sein, wenn er Libyern willkommen ist. Eingriffe aus dem Ausland können die Dinge aber nur noch komplizierter machen.

Die Lage in Libyen unterscheidet sich in vieler Hinsicht von der in Syrien oder Irak:

  • Libyens Gesellschaft ist vielfach gespalten, aber dennoch vergleichsweise homogen. Es gibt keine großen religiösen Minderheiten.
  • In Libyen findet auch nicht die Art von Stellvertreterkrieg statt, den Saudi-Arabien und Iran seit einiger Zeit in Syrien führen. Die Feindseligkeiten sind dort jahrhundertealt und haben mit dem Schisma zwischen Sunniten und Schiiten zu tun.
  • Libyen ringt zumindest bislang nicht mit einer Dschihadistentruppe vom ISIS-Kaliber. ISIS ist die skrupellose Sunniten-Miliz, die behauptet, in Teilen Syriens und Iraks einen islamischen Staat zu beherrschen. Selbst Golfländer haben sich kürzlich mit den USA und anderen westlichen Ländern gegen ISIS verbündet.
  • Die Legitimität der NATO-Intervention im Aufstand gegen Gaddafi stellt niemand grundsätzlich in Frage. Es wird indessen darüber diskutiert, ob die teilnehmenden Länder das UN-Mandat überzogen haben.
  • Ausländische Truppen haben Libyen nicht besetzt, wie das die von den USA geführte Koalition der Willigen im Irak tat. Die libysche Politik wurde immer von Libyern gestaltet.

Aus diesen Gründen dürften Versöhnung und die Schaffung eines neuen Staates in Libyen leichter sein als in Syrien oder im Irak. Langfristig werden Libyer beides wahrscheinlich hinbekommen. Schnell geht es nicht, denn das Land hat keine Geschichte, in der ein starker Staat und Zivilgesellschaft verankert wären, sondern es stützt sich ganz auf Stammestraditionen. Auf absehbare Zeit wird also Gewalt in Libyen vermutlich immer wieder Opfer fordern – mit negativen Konsequenzen für die Sicherheit der Nachbarländer. (dem)

Relevante Artikel

Governance

Um die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung zu erreichen, ist gute Regierungsführung nötig – von der lokalen bis zur globalen Ebene.