Beschäftigung

Verzerrte Wahrnehmung

In Bangladesch sind sich Gewerkschaften und Arbeitnehmerverbände einig, dass die Textilindustrie zur Entwicklung des Landes entscheidend beiträgt und dass sich deren Arbeitsbedingungen und Bezahlung erheblich verbessert haben. Deutsche Medien zeichnen ein ganz anderes Bild.

Von Marianne Scholte

Die Ansiedlung der Bekleidungsindustrie in Bangladesch war eine Konsequenz des Welttextilabkommens von 1974. Erste Fabriken wurden Ende der 70er Jahre aufgebaut, weil Unternehmen aus Hongkong und Südkorea die Exportquoten ihrer Länder umgehen wollten. Die Branche wuchs explosionsartig: Schon 1990/91 betrug der Wert der Textilexporte aus Bang­ladesch 900 Millionen Dollar, was grob der Hälfte der Ausfuhrerlöse entsprach.

Heute ist Bangladesch nach China der zweitgrößte Exporteur von Konfektionskleidung weltweit. Im ­vergangenen Jahr führte es laut Economist Kleidungsstücke im Wert von 18 Milliarden Dollar aus. Das entsprach 78 Prozent aller Exporterlöse. In den Textilfabriken arbeiten heute rund 3,5 Millionen Menschen – und zwar überwiegend Dorffrauen, für die es im ländlichen Raum keine Arbeit gibt. Indirekt beschäftigt die Textil­industrie Millionen weiterer Menschen.

Seit mindestens 20 Jahren gibt es kritische Medienberichte über die Branche. Mit einer Kampagne machte die Child Labour Coalition Anfang der 1990er Jahre in den USA zum Beispiel auf Kinderarbeit in Bangladesch aufmerksam. 1992 verabschiedete der US Congress den Child Labour Deterrence Act (Harkin Bill). Auf dieses Gesetz hin wurden viele Lieferaufträge an Firmen in Bangladesch storniert.

Die Auswirkungen waren heilsam. Der Industrieverband Bangladesh Garment Manufacturers and Exporters Association (BGMEA) drängte seine Mitglieder, die Beschäftigung von unter 15-Jährigen abzustellen. 1995 unterzeichnete die BGMEA ein Ab­­kommen mit der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und dem UN Kinder­fonds UNICEF, das unter anderem Kontrollen und Prüfung durch ausländische Revi­soren vorsah. Das Abkommen gilt bis heute.

Nichtsdestotrotz nehmen in Deutschland die Medienberichte über die Zustände in Fabriken in Bangladesch wieder zu. Mit eigenen Recherchen hat beispielsweise die Kampagne für Saubere Kleidung, die zur internationalen Clean Clothes Campaign (CCC) gehört, mehrfach niedrige Löhne, lange Arbeitszeiten und mangelnden Arbeitsschutz aufgedeckt. In einer im Januar erschienenen Studie der Kampagne heißt es: „Die Arbeitsbedingungen der Näherinnen haben sich kaum verbessert.“

Als die ARD-Sendung Markencheck Anfang des Jahres die Discounter Lidl und H&M kritisierte, stützte sich die Berichterstattung vor allem auf Clean-Clothes-­Recherchen. Unter anderem wurde in der Sendung über H&M auch der stellvertretende Leiter des gewerkschaftsnahen Bangladesh Institute of Labour Studies, Syed Sultan Uddin Ahmmed, zitiert. In der Sendung war sein Statement zu hören, dass Textilarbeiterinnen zum Überleben ein Mindesteinkommen von 7000 Taka bräuchten (knapp 70 Euro). Der Mindestlohn betrage aber nur 3000 Taka.

Die Aussage stimmt, war aber aus dem Zusammenhang gerissen. Er selbst war überrascht und aufgebracht, als er erfuhr, dass seine Aussage im deutschen Fernsehen lief und so interpretiert werden konnte, dass es ethisch falsch sei, in Bangladesch hergestellte Kleidung zu kaufen. Die CCC selbst lehnt Boykott zwar ab, die Medienberichterstattung, die sich auf ihre Informationen stützt, legt aber oft nahe, es sei besser, Händler zu meiden, die Importware aus Bangladesch anbieten.

Uddin Ahmmed widerspricht der Kampagne für Saubere Kleidung entschieden: „Viele Firmen haben ihre Arbeitsbedingungen verbessert.“ Dazu haben aus seiner Sicht unter anderem Streiks im Jahr 2005 beigetragen. „Die Probleme der Texil­arbeiterinnen wurden bekannt. Heute verschließt niemand mehr die Augen.“ Tatsächlich ist die Textilindustrie die einzige Branche in Bangladesch, für die es überhaupt einen Mindestlohn gibt. Viele Beschäftigte verdienen auch genug, um nicht nur zu überleben, sondern sogar Verwandte auf dem Land zu unterstützen. „Die Anhebung des Mindestlohns auf 3000 Taka im Jahr 2010 reicht nicht aus“, sagt Uddin Ahmmed, „aber das ist trotzdem viel besser als vorher.“

Die einzige Alternative für die meisten Textilarbeiterinnen wäre ein Job als Haushaltshilfe. Laut Uddin Ahmmed ist das „schlimmer als alles andere“. Bedienstete in Privathaushalten genössen keinerlei Rechtsschutz. Allenfalls in „den wohl­habenden Vierteln Dhakas“ könnten sie 1500 Taka im Monat verdienen, anderswo kämen sie „höchstens auf 800 Taka“.

„Produkte aus Bangladesch zu boykottieren ist nicht die Lösung“, sagt Uddin Ahmmed. „Meine Botschaft wäre: Kauft Kleidung, die in Bangladesch hergestellt wurden und helft jungen Bangladescherinnen vom Lande, ein selbstbestimmtes und würdevolles Leben zu leben.“ Tatsächlich leben Textilarbeiterinnen in den Städten selbstbewusster und autonomer als Frauen in den Dörfern. In mancher Beziehung empfinden die Frauen Arbeit, die Deutschen haarsträubend vorkommt, als Befreiung. Laut den Forschungsergebnissen von Sozialwissenschaftlerinnen wie Naila Kabeer (2000) ändern sich auf Grund der Textilindustrie im muslimisch geprägten Bangladesch die Geschlechterrollen.

Aus Sicht von Uddin Ahmmed hat Bangladesch nichts von „Kampagnen, um Importe nach Europa zu stoppen“. Er meint, es müsse Druck auf die Regierung ausgeübt werden: „Um mit dieser gigantischen Branche fertigzuwerden, muss sie ihr Arbeitsrecht systematisch durchsetzen.“ Das geschehe noch längst nicht. Da­rüber hinaus müsse die Regierung soziale Aufgaben wie den Wohnungsbau angehen. „Alle diese Arbeiterinnen leben in zwei Städten. Für ihre Unterkünfte wurde kein einziger Ziegelstein bewegt, nicht eine Toilette gebaut.“

Deutschen, die die Situation in Bangladesch verbessern wollen, rät Uddin Ahmmed, die Gewerkschaften dort zu ­unterstützen: „Kooperiert mit denen, die aktiv sind. Helft ihnen, Arbeiterinnen zu organisieren und mobilisieren.“ Interna­tionaler Druck sei hilfreich, um Unternehmen zum Handeln zu bringen. Boykott von Produkten schade aber den Textil­arbeiterinnen.

Die Sicht der Arbeitgeber

Die Industrieverbände in Bangladesch geben sich ihrerseits aufgeschlossen. Sowohl die BGMEA als auch die Bangladesh Knitwear Manufacturers and Exporters Association (BKMEA) wecken bei ihren Mitglieds­firmen Bewusstsein für internationale Sozial- und Umweltstandards. Gegen Widerstand von ihrer Basis drängen sie darauf, solche Regeln auch einzuhalten.

Fazlul Hoque kennt sich damit aus. Der ehemalige BKMEA-Vorsitzende ist mittlerweile Präsident des nationalen Arbeitgeberverbands. Er räumt ein, widerborstige Mitglieder fühlten sich nicht gut vertreten, aber er sage ihnen dann: „Gut, heute denkt ihr so, aber in fünf Jahren werdet ihr sehen, dass ich euch jetzt auf die richtige Weise beschütze.“

Internationale Geberinstitutionen wie die GIZ, das UN-Entwicklungsprogramm (UNDP) oder die EU haben aus Hoques Sicht dazu beigetragen, ein Bewusstsein für soziale Fragen in Bangladesch zu schaffen. Er verweist auch auf den Druck der Märkte. Den Herstellern sei zunehmend klar, „dass sie die Bedürfnisse der Abnehmer erfüllen müssen“.

Hoque bestitzt zwei Textilfabriken und beschäftigt 1200 Arbeiterinnen in Narajanganj etwa zwei Stunden außerhalb von Dhaka. Er gibt an, das Arbeitsrecht Bangladeschs konsequent einzuhalten, das unter anderem die Kernarbeitsnormen der ILO einschließt. „BKMEA und BGMEA prüfen Firmen und zertifizieren, ob und in welchem Maße sie gesetzeskonform handeln“, sagt er. Dabei gehe es unter anderem um Arbeitsschutz oder das Verbot von Kinderarbeit. Im nächsten Schritt kämen dann Audits von externen Anbietern. Hoques Fabriken wurden beispielsweise vom TÜV SÜD aus Deutschland zertifiziert.

Etwa ein Drittel der 3000 Textilfabriken in Bangladesch arbeitet laut Hoque in voller Übereinstimmung mit dem Gesetz. Es seien große und mittlere Unternehmen, die etwa 1,5 Millionen Arbeiterinnen beschäftigen.

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