Menschliche Sicherheit

Die Grenzen Europas

Es gibt keine von der EU gegründete Institution, die menschenrechtlich so umstritten ist wie die Grenzagentur Frontex. Immer wieder werden Beschwerden laut. Das kürzlich erneuerte Frontex-Mandat verpflichtet zwar zur Einhaltung der Menschenrechte, dennoch könnte die Situation für die Flüchtlinge sogar noch schlimmer werden. Von Karl Kopp
Frontex is a symbol of “fortress Europe”: refugees in a Greek detention camp in the Evros region. picture-alliance/dpa Frontex is a symbol of “fortress Europe”: refugees in a Greek detention camp in the Evros region.

Im Mai 2005 nahm die Europäische Grenzschutzagentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen, Frontex, ihre Arbeit auf. Seitdem haben die Europaparlamentarier willfährig jedes Jahr den Haushalt der Agentur erhöht. Auch das Mandat wurde sukzessive erweitert. Denn Frontex ist das Lieblingskind der EU-Innenminister und genießt auch in großen Teilen des Europaparlaments große Unterstützung. Bei den meisten Flüchtlingsorganisationen jedoch weckt schon die Erwähnung von Frontex bedrückende Assoziationen – von Flüchtlingsdramen auf hoher See, von Ertrunkenen und High-Tech-Grenzeinsätzen.

Frontex ist für die Verteidigung der europäischen Außengrenzen verantwortlich: Die Agentur soll die Grenzkontrollen der EU-Staaten koordinieren. Zudem organisiert Frontex Sammelabschiebungen aus verschiedenen Mitgliedsstaaten und führt sogenannte Risikoanalysen durch, um Flüchtlingsbewegungen frühzeitig zu identifizieren und Abwehrmaßnahmen an den Außengrenzen zu ergreifen. Wenn Länder, die unter einem „verstärkten Einwanderungsdruck“ stehen,  Unterstützung von Frontex beantragen, entsendet die Agentur ihre schnellen Eingreif­truppen. Diese werden aus von den EU-Ländern bereitgestellten Grenzschutzbeamten gebildet. Da das Frontex-Personal jedoch begrenzt ist, arbeiten die Truppen vor Ort meist mit nationalen Beamten zusammen.

Das Budget von Frontex stieg in den letzten Jahren rasant von 6,2 Millionen Euro im Jahr 2005 auf 90 Millionen Euro in 2009. Viele Informationen von Frontex-Seite, gar Transparenz, haben die Europaparlamenta­rier dafür jedoch nicht erhalten. Der Großteil des Geldes wird für sogenannte Seeoperationen in der Ägäis, im zentralen Mittelmeer und im Atlantik verwendet.


Kein Schutz, nur Verfolgung

Lange Zeit galt: Wo Frontex operiert, gibt es nur „irreguläre Migration“. Die Mitgliedstaaten und das Europaparlament erwarten von der Agentur, dass Flüchtlingsboote bereits in internationalen Gewässern oder besser noch in den Territorialgewässern von Transitstaaten abgefangen werden – also schon bevor die Flüchtlinge europäisches Hoheitsgebiet erreichen, denn ab dort hätten sie Anrecht auf ein Asylverfahren. Im Technokratenjargon von Frontex heißt dieses lebensgefährdende Vorgehen „Umleiten“. Wie genau dieses Umleiten vor sich geht, davon erfährt die Öffentlichkeit nichts, denn Frontex liefert keine aus­sagefähigen Berichte. Allein im Jahr 2008 wurden mindestens 6000 Bootsflüchtlinge Opfer dieser Seeoperationen. Die Frontex-Verbände unter Führung Spaniens schickten sie wie Stückgut nach Westafrika zurück.

Die Verantwortung für solch unmenschliches Vorgehen verwischt bei Frontex-Einsätzen jedoch nur allzu häufig. Wenn Menschenrechtsverletzungen angeklagt werden, schiebt das Frontex-Hauptquartier in Warschau die Verantwortung auf den Mitgliedsstaat, der die gemeinsame Operation leitet. Der jeweilige Staat, sei es Griechenland, Italien oder Spanien, entgegnet dann gern: „Fragt Frontex.“

Um die Flüchtlinge möglichst früh abzufangen, schließen die Mitgliedsstaaten, beziehungsweise Frontex, Abkommen mit Transitstaaten. So kann die Armada bereits in deren Territorialgewässern operieren, beispielsweise vor Mauretanien oder dem ­Senegal. Frontex-Direktor Ilkka Laitinen erklärte 2009 in der Financial Times lapidar: „Wenn wir in internationalen Gewässern oder im Hoheitsgebiet von Drittstaaten pa­trouillieren, dann können Einwanderer dort kein Asyl beantragen. Das wird allerdings immer wieder als Verletzung der Menschenrechte ausgelegt.“

Bei der Flüchtlingsabwehr arbeitet Frontex also eng mit „Partnerstaaten“ zusammen, egal, welche menschenrechtlichen Standards diese Staaten haben. Frontex agiert damit in einer rechtlichen Grauzone. Der frühere deutsche Bundesinnenminister Otto Schily und seine Amtskollegen wollten das so: In der ersten Frontex-Verordnung aus dem Jahr 2004 tauchen Flüchtlings- und Menschenrechtsbelange bewusst nicht auf, und selbst die Seenotrettung fand keine Erwähnung.

In den mehr als sieben Jahren seit Bestehen der Agentur sind tausende Bootsflüchtlinge auf dem Weg nach Europa gestorben und über 10 000 zwangsweise in Drittstaaten wie Libyen, Marokko, Mauretanien, Senegal oder die Türkei zurück verfrachtet worden siehe Hintergrundinformation. Frontex hat dieses menschenrechtliche Desaster zwar nicht allein verursacht. Die EU-Agentur ist jedoch Ausdruck und Beleg für die fatale europäische Flüchtlingspolitik.


Schutz auf See

Der Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg hat am 23. Februar 2012 in einem wegweisenden Urteil die italienische Zurückweisungspolitik verurteilt – und damit auch die schäbige Kooperation der früheren Regierung Berlusconi mit dem damaligen libyschen Diktator Gaddafi. Italien hat demzufolge die Europäische Menschenrechtskonvention verletzt, insbesondere das sogenannte Refoulementverbot. Dieses verbietet die Zurückweisung von Flüchtlingen in ein Land, wo ihnen Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohen.

Dieses Urteil kommt für die zahlreichen Opfer der italienischen Zurückweisungspolitik zu spät. Sie waren seit Mai 2009 Misshandlung, erniedrigender Behandlung und Folter in libyschen Haftlagern ausgesetzt. Mindestens einer der klagenden Flüchtlinge starb bei einem erneuten Versuch nach Europa zu gelangen.

Für die Zukunft der europäischen Flüchtlingspolitik hat die Entscheidung jedoch weitreichende Konsequenzen: Die Staaten werden ihre Grenzkontrollen und Flüchtlingspolitik grundlegend überprüfen müssen. Sonst können sie die uneingeschränkte Achtung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung künftig nicht gewährleisten. Dies gilt unabhängig davon, ob sie unter der Ägide von Frontex handeln oder nicht.

Im November 2011 hat die europäische Grenzschutzagentur Frontex daher ein neues Mandat bekommen. Darin wird explizit auf den Flüchtlingsschutz hingewiesen. Künftig sollen Frontex-Mitar­beiter ausdrücklich verpflichtet sein, Menschen in Seenot zu retten. Das neue Mandat sieht auch vor, dass Frontex-Operationen abgebrochen werden können, wenn es dabei zu schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen kommt. Mittlerweile besitzt Frontex sogar eine Menschenrechtsbeauftragte – die jedoch hausintern angesiedelt ist und somit nicht unabhängig agiert – sowie seit dem 5. September 2012 auch ein Konsultationsforum bestehend aus Vertretern des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, der europäischen Grundrechteagentur und verschiedenen Nichtregierungsorganisationen.


Frontex und die Menschenrechte

Sind die Menschenrechte jetzt bei Frontex angekommen? Zwar beherrschen die Vertreter aus Warschau den Menschenrechtsdiskurs mittlerweile recht gut, doch es sind große Zweifel angebracht. Erst in der Realität wird sich zeigen, ob Frontex-Einsätze bei Menschenrechtsverstößen wirklich abgebrochen werden. Wahrscheinlicher ist dieses Szenario: Wenn Grenzbeamte künftig bei der Seeoperation „Poseidon“ in der griechischen Ägäis syrische Flüchtlinge aufgreifen und der Frontex-Beamte diese Schutzsuchenden dann in unmenschlichen Lagern auf den griechischen Inseln abliefert, dann werden wir wieder hören: „Die Griechen sind schuld.“ Auf der anderen Seite beinhaltet das neue Mandat sogar neue Gefahren für die Flüchtlinge, denn es überträgt Frontex weitere Kompetenzen bei der Zusammenarbeit und Durchführung von Pilotprojekten mit Drittstaaten. Die Agentur darf nunmehr Verbindungsbeamte dorthin entsenden. Zwar heißt es in der Verordnung, dass die Agentur nur mit Drittstaaten kooperieren dürfe, deren Grenzschutzmethoden „Mindestmenschenrechtsstandards“ genügen. Doch diese Formulierung lässt viel Spielraum für Interpretationen.

Es ist daher zu befürchten, dass die Frontex-Mandatserweiterung vor allem dazu dient, die EU-Flüchtlingsabwehrpolitik in Drittstaaten auszulagern. Menschenrechte spielen dabei wohl höchstens eine untergeordnete Rolle. Bis jetzt hat Frontex bereits mit folgenden Drittstaaten sogenannte Arbeitsabkommen geschlossen: Russland, Ukraine, Kroatien, Moldau, Georgien, Mazedonien, Serbien, Albanien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Weißrussland, Kap Verde, Nigeria, Armenien und Türkei. Mit Libyen, Marokko, Senegal, Mauretanien, Ägypten, Tunesien, Brasilien und Aserbaidschan laufen Verhandlungen. Niemand kontrolliert wirklich, was Frontex in diesen Transit- und Herkunftsstaaten zur „Mi­grationsbekämpfung“ unternimmt. Die Gefahr ist groß, dass lediglich die Orte der Menschenrechtsverletzungen und des Sterbens aus unserem Blickfeld gerückt werden.

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