Interview

„Man kann seine sexuelle Orientierung nicht ablegen“

Viele Geistliche aller Weltreligionen sind konservativ und verurteilen Homosexualität. Doch einige tun das nicht. Der südafrikanische Imam Muhsin Hendricks ist Mitbegründer von „The Inner Circle, einer Gemeinschaft für schwule und lesbische Muslime in Kapstadt. Hendricks unterstützte auch die Einführung der Homoehe in Südafrika.
Teilnehmer der Gay Pride Johannesburg 2011. Thandile Zwelibanzi/picture-alliance/dpa Teilnehmer der Gay Pride Johannesburg 2011.

Sowohl in der Bibel als auch im Koran steht die Geschichte von Sodom und Gomorra. Viele Geistliche sagen, sie zeige, dass Homosexualität eine Sünde sei. Stimmen Sie zu?
Nein. Ich glaube weder, dass der Koran unterschiedliche sexuelle Orientierungen ablehnt, noch, dass Homosexualität das Thema von Sodom und Gomorra ist. Die Städte wurden zerstört, weil ihre Einwohner gegen Gastfreundschaftsregeln verstießen und weil sie andere ausbeuteten, mit Gewalt und auch homosexueller Vergewaltigung. Im Koran steht nicht, dass Homosexualität der Grund für die Zerstörung war. Warum sollte ein Mensch mit einer anderen sexuellen Orientierung sich auch verbergen müssen? Ehrlichkeit ist eines der wichtigsten islamischen Prinzipien. Wir müssen authentisch sein. Wenn wir uns selbst und andere belügen, können wir keine guten Muslime sein. Deshalb habe ich im Alter von 29 Jahren zugegeben, dass ich ein homosexueller Imam bin.

Aber in den Augen der meisten Muslime ist die patriarchale, männlich dominierte Familie das einzige Modell für Geschlechterbeziehungen.
Der Koran ist ein Buch aus dem siebten Jahrhundert. Man muss ihn im Kontext des damaligen Arabiens verstehen. Darüber hinaus ist der Koran ein poetisches Meisterstück, und Poesie ist naturgemäß offen für viele verschiedene Interpretationen. Für mich besteht die Schönheit des Korans unter anderem in der Bedeutung, die er dem Heilen und der Gnade zumisst. Deshalb sollte die Leitfrage bei seiner Interpretation immer sein: Wie dient diese Geschichte der Menschlichkeit am besten? Der Koran sagt, dass Gott gnädig ist, der Erbarmer, und daran sollten wir uns als Muslime orientieren.

Wann haben Sie bemerkt, dass Sie schwul sind?
Ich habe es immer gewusst. Ich war anders als andere Jungen und wurde deswegen schon früh gehänselt. Meine Familie hat mich aber sehr unterstützt. Meine Mutter war liebevoll und schützte mich, und mein Vater war auch sehr tolerant. Ich strickte und häkelte oft mit meiner Mutter, und mein Vater sagte nichts dagegen. Außerhalb der Familie, draußen in der Gesellschaft, erlebte ich dagegen starke Zurückweisung. Als mir während der Pubertät klar wurde, dass ich mich nicht zum anderen Geschlecht sexuell hingezogen fühlte, wurde es wirklich schwierig. Ich ertränkte meine Probleme in Religiosität. Ich war sehr fromm, aber die Gesellschaft vermittelte mir, dass ich in die Hölle komme.

Wollten Sie Ihre homosexuellen Neigungen überwinden?
Naja, die Ehe mit einer Frau war ein Versuch, das zu tun. Ich habe gefastet, gebetet und Allah angefleht, mich zu ändern. Ich ging sogar zu einem spirituellen Heiler. Aber schließlich habe ich begriffen, dass es nötig ist, mich selbst zu akzeptieren und authentisch zu sein.

Erinnern Sie sich an den Moment, als Sie begriffen haben: Ich bin in Ordnung, so wie ich bin, und ich muss mein Leben authentisch leben?
Das kam mit der Zeit. Ich bin nicht eines Morgens aufgewacht und wusste: „Das ist es“. Die Entscheidung, mich scheiden zu lassen, war wichtig. Das war nicht leicht, denn es hieß, mich von meinen Kindern zu trennen. Ich habe drei Monate lang gefastet. Das half mir, mich mit meinem Schöpfer zu versöhnen. Ich wusste, dass ich vor einem Riesenschritt stand und mit viel Widerstand rechnen musste. Ich verlor durch das Coming Out meinen Lehrerjob. Mir war aber absolut klar, dass ich das Richtige tat.

Sie haben also Ihren Weg mit Hilfe des Islams gefunden, nicht trotz des Islams?
Ja. Der Islam ist ein System der Inklusion, des Mitfühlens, eines überwältigend gnädigen und vergebenden Gottes. Wenn wir das Leben des Propheten Muhammad studieren, finden wir dieses immense Mitgefühl mit allen Menschen. Wenn man dann sieht, wie gewalttätig manche heute den Islam praktizieren, weiß man, dass etwas extrem falsch gelaufen ist.

Was verbindet die Mitglieder Ihrer Gemeinschaft „Inner Circle“ in Kapstadt?
Die Organisation sollte ursprünglich homosexuelle Muslime unterstützen. Wir haben zum Beispiel Hochzeiten für bisher neun gleichgeschlechtliche Paare gefeiert. Aber in den vergangenen drei Jahren haben sich uns auch andere Menschen, die das Patriarchat problematisch finden, angeschlossen. Auch heterosexuelle Paare lassen sich von uns trauen– in einem Fall war die Frau Muslima und der Mann Christ. Andere Moscheen forderten, er solle erst zum Islam konvertieren. Wir haben die beiden auch ohne Konversion getraut. So etwas passiert immer öfter. Wir haben gerade unseren jährlichen „Retreat“ beendet. In diesem Jahr haben 110 Menschen teilgenommen, davon war über die Hälfte heterosexuell. Das zeigt mir, dass sich viele Menschen, auch wenn sie selbst nicht queer sind, für einen authentischen Islam interessieren, der aus den Kämpfen homosexueller und feministischer Muslime hervorgeht. 

Ist Ihre Gruppe auf Kapstadt begrenzt?
Die meisten Mitglieder sind in Kapstadt. Aber zu unserem jährlichen „Retreat“ kommen Menschen aus ganz Südafrika und auch aus anderen Ländern. Hoffentlich werden künftig Moscheen in der ganzen Welt inklusiv. 

Ist Ihre persönliche Sicherheit ein Thema?
Für meine Mitarbeiter schon, für mich selbst bisher nicht. Ich habe noch keine Todesdrohungen erhalten. Ich gehe auch nicht konfrontativ vor, sondern kümmere mich um alle Menschen. Die Leute wissen, dass ich seit über 20 Jahren für die islamische Gemeinde arbeite. Niemand kann sagen, dass ich den Islam, seine Prinzipien oder die Familienstruktur angreife. Ich schaffe einen Raum für ausgegrenzte Seelen, die mit ihrem Schöpfer in Verbindung treten wollen.

Was meinen Sie mit Familienstruktur?
Es wird oft behauptet, dass Schwule gegen die Familie, die Ehe und so weiter seien. Mein Partner und ich haben aber ein 16 Monate altes Kind. Wir sorgen füreinander – wir sind eine Familie. Andererseits gibt es viele Heterosexuelle, die ihre Familienpflichten nicht erfüllen, weil sie zum Beispiel keine guten Eltern sind. Was Familie angeht, ist der einzige Unterschied zwischen homo- und heterosexuellen Menschen die sexuelle Orientierung.

Als Imam arbeiten Sie mit Schlüsselbegriffen. Einer ist „Sabr“, das lässt sich mit „Geduld“ übersetzen. Was bedeutet „Sabr“ für Sie?
Viele Verse im Koran erwähnen „Sabr“. Für mich geht es nicht nur um Geduld, sondern auch um Durchhaltevermögen. Es geht darum, sich auf die Verbindung zum Schöpfer zu konzentrieren, die Quelle unserer Kraft – und zwar vor allem vor großen Herausforderungen. 

Der Titel ihres Dokumentarfilms lautet „Fitrah“. Was bedeutet das?
Das ist ein komplexer Begriff, man kann ihn mit „Natur“ übersetzen, also die Art und Weise, wie Gott einen geschaffen hat. Was ein Muslim tut, sollte im Einklang mit der persönlichen „Fitrah“ stehen.

Warum haben Sie diesen Film gemacht?
Ich wollte die persönlichen Konflikte homosexueller Muslime dokumentieren. Viele Menschen wissen darüber gar nichts; es gibt sehr viele Vorurteile. Ich wollte substantielle Information anbieten. Doch im Lauf der Arbeit wurde daraus ein Dokumentarfilm, der zeigt, wie queere Muslime das Verhältnis von Religiosität und sexueller Orientierung mit sich selbst ausmachen. Viele haben dabei riesige Probleme. Viele flüchten sich in Drogen oder Alkohol, um das Gefühl der Ablehnung zu betäuben. Andere fühlen sich überfordert und geben den Glauben auf. Das ist ein wichtiger Aspekt – dass man zwar seinen Glauben, aber nicht seine sexuelle Orientierung ablegen kann. Das Suizidrisiko ist groß – ich kenne persönlich fünf Fälle. Der Film behandelt diese Themen aus individueller, theologischer und wissenschaftlicher Sicht. Es ist kein Film, bei dem man entspannt die Füße hochlegt. Er fordert die Zuschauer, und wird hoffentlich überall, wo er gezeigt wird, Diskussionen auslösen.

Ihre Arbeit kreist um religiöse Texte und Vorstellungen. Was halten Sie von Grund- und Menschenrechten?
Ich finde, Südafrika hat eine der besten Verfassungen und eine der großartigsten Demokratien der Welt. Aber es bleibt an der Basis noch sehr viel zu tun. Die fortschrittliche Regierungspolitik dringt nicht zu allen durch. Viele Leute denken immer noch homophob, rassistisch, sexistisch et cetera. Deshalb konzentriere ich mich als Imam nicht nur auf die Seele, sondern auch auf Gerechtigkeit und menschliche Würde. Unter anderem habe ich mich an der Kampagne für die Einführung eingetragener gleichgeschlechtlicher Partnerschaften beteiligt, indem ich zum Beispiel dem Parlament die Koran-Perspektive erläutert habe. 2006 hat Südafrika dann den Civil Union Bill eingeführt – das war ein wichtiger Schritt.  

Die Fragen stellte Martina Sabra.

 

Muhsin Hendricks ist der erste offen schwule Imam Südafrikas. Er stammt aus einer muslimischen Familie und studierte islamische Theologie in Pakistan. Seine Homosexualität hielt er über zehn Jahre lang geheim. Er heiratete sogar eine Frau, ließ sich aber nach seinem Coming Out scheiden. Hendricks ist Gründer von „The Inner Circle“. Die Organisation berät in Kapstadt homosexuelle Muslime. Hendricks aktueller Dokumentarfilm heißt: „Fitrah – Negotiating Islam, sexual orientation and gender identity.“
http://theinnercircle.org.za/

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