Vorläufiger Machtwechsel

Harte Zeiten

Brasilien wird mitten in einer schweren Wirtschaftskrise von einer Regierungskrise erschüttert. Ob Interimspräsident Michel Temer sich halten kann, bleibt abzuwarten.
Temer und Rousseff im Sommer 2015. picture-alliance/dpa Temer und Rousseff im Sommer 2015.

Brasiliens Militärdiktatur endete vor 27 Jahren. Jetzt steckt das Land wieder in einer schweren Krise. Doch die politischen Institutionen werden nicht in Frage gestellt, sagt Ricardo Sennes von der Consultingfirma Prospectiva. Er spricht von einer Kompetenzkrise der politischen Akteure.
Anfang 2016 waren im Senat 17 Parteien und in der Abgeordnetenkammer 25 Parteien vertreten. Die hohe Zahl, so Sennes, verlangt jedem Präsidenten große politische Fähigkeiten ab, weil es schwierig ist, Mehrheiten zur Durchsetzung von Reformen zu bilden.

Luiz Inácio Lula da Silva gelang das gut. Der Vorgänger der mittlerweile suspendierten Präsidentin Dilma Rousseff bildete breite, heterogene Regierungskoalitionen, denen auch Parteien des rechten Flügels angehörten. Er hatte den Rückhalt von etwa 80 % des Kongresses, sagt Sennes, und konnte so seine Politik umsetzen. Seiner Nachfolgerin, die ebenfalls der Arbeiterpartei angehört, gelang das nicht.

Sie versuchte sich durch Umbesetzung des Kabinetts dem Einfluss von Lula und ihrem Koalitionspartner, der Mitte-rechts-Partei PMDB, zu entziehen, wie Sennes ausführt. Auch mit der Wirtschaftspolitik ihres Vorgängers habe sie gebrochen. In der Folge habe sie Rückhalt im Kongress verloren. Zunehmend sei sie auf Opposition innerhalb ihrer Koalition gestoßen.

Wegen der wirtschaftlichen Krise wuchsen die Probleme. Inflation und Arbeitslosigkeit stiegen an, die Wirtschaftsleistung ist eingebrochen. Derweil wurden immer heftigere Korruptionsvorwürfe laut. Sennes spricht deshalb von einer multifaktoriellen Krise. In den Skandal um den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras sind, wie Sennes ausführt, Politiker aller Parteien verstrickt.

Davor wurde Brasilien jahrelang vom Erfolg verwöhnt. Der Anteil der armen Bevölkerung betrug 2003 noch 27 Prozent und sank bis 2014 auf sieben Prozent. Die Zahl der Hochschulabsolventen stieg von 1998 bis 2014 um das Dreifache. Die Lebenserwartung stieg innerhalb von anderthalb Jahrzehnten um mehr als fünf Jahre auf 75. Solche Errungenschaften gingen mit deutlich höheren Staatsausgaben einher, berichtet Sennes Ende April anlässlich eines Vortrags im Außenbüro der Deutschen Investitions- und Entwicklungsgesellschaft (DEG), die private Unternehmen in Entwicklungs- und Schwellenländern fördert und seit Mitte der 1960er Jahre in Brasilien tätig ist.

Die politische Krise eskalierte, weil die PMDB nach 13 Jahren die Zusammenarbeit mit der Arbeiterpartei aufkündigte und sich an die Spitze der Bewegung zur Absetzung von Präsidentin Rousseff setzte. Am 12. Mai bestätigte der Senat das Amtsenthebungsverfahren, welches das Abgeordnetenhaus gestartet hatte. Rousseff ist somit für vorläufig 180 Tage abgesetzt. In dieser Zeit muss der Senat mit Hilfe des Obersten Gerichtshofs die Vorwürfe gegen sie – Bilanztricks zur Verschleierung der Haushaltslage – prüfen. Rousseff selbst spricht von einem Putsch. Sie wirft ihren Widersachern vor, die schlechte Stimmung im Land ausgenutzt zu haben, um einen Machtwechsel ohne Wahlen herbeizuführen.

Die Amtsgeschäfte führt nun Vizepräsident Michel Temer (PMDB), Rousseffs ehemaliger Koalitionspartner. Er ist in Korruptionsaffären verstrickt und vor einem Amtsenthebungsverfahren nicht gefeit. Wegen illegaler Wahlkampfspenden darf er acht Jahre lang nicht bei Wahlen kandi­dieren.

Temers Machtübernahme läutet ein vorläufiges Ende von 13 Jahren linksgerichteter Regierung unter Lula und Rousseff ein. In Temers Kabinett sitzen nur ältere weiße Männer. Sie regieren nun ein Land, in dem die Mehrheit der Bevölkerung weiblich ist und sich selbst als schwarz oder farbig definiert. Dass sie die Probleme des Landes in den Griff bekommen, bezweifeln viele Beob­achter.

Temer hat versprochen, mehr Markt zuzulassen, ohne die soziale Sicherung zu vernachlässigen. Auf der Agenda stehen aber die Flexibilisierung des Arbeitsrechts, die Reform des Rentensystems sowie Kürzungen von Sozialleistungen. Aus Sennes’ Sicht war schon im April klar, dass die Wirtschaftspolitik umgesteuert werden muss – und dass das keine leichte Aufgabe ist.

Dagmar Wolf

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