Justiz- und Rechtssysteme

Anwälte für Arme

Die Förderung der Justiz in Entwicklungsländern ist wichtig, um Rechtssicherheit zu schaffen. Das in ländlichen Gegenden vorherrschende Gewohnheitsrecht ist nicht immer menschenrechtskonform – zu Lasten der Armen.
Traditioneller Rechtssprecher im ländlichen Raum: Dorf-Chief in Kamerun. Heiner Heine/imagebroker/Lineair Traditioneller Rechtssprecher im ländlichen Raum: Dorf-Chief in Kamerun.

Anton Y. soll morgen aus dem Gefängnis entlassen werden. Eine Angestellte des zuständigen Ministeriums will die Haftentlassung von ihm und zwei Mitgefangenen verfügen. Dazu braucht sie für jeden ein Formular – es findet sich jedoch nur noch ein letztes Formular. Also trägt sie die Namen aller drei zur Entlassung vorgesehenen Häftlinge dort ein und gibt das einzelne Blatt am nächsten Tag dem Gefängniskurier. Der heftet das Formular in die Akte des ersten Häftlings ab, der auch wie vorgesehen entlassen wird. Anton Y. hat jedoch kein eigenes Formular, sodass seine Entlassung nicht veranlasst wird. Er ist eigentlich am Ende seiner zweijährigen Haftstrafe für einen Motorraddiebstahl. Auf Grund des fehlenden Formulars sitzt er aber auch sechs Monate später noch in seiner Zelle.

Wie konnte es in einem afrikanischen Partnerland zu so einer Justizpanne kommen? War es schlicht Schlamperei, wie wir auf den ersten Blick denken? Keinesfalls. Die Angestellte des Ministeriums wusste, dass die Entlassung der drei Häftlinge nicht an fehlenden Formularen scheitern durfte. Daher wich sie vom Standardverfahren ab und nutzte das verbleibende Formular für alle drei Häftlinge. Der Angestellte, der das Formular abheftete, wusste hingegen lediglich „ein Formblatt – eine Akte", denn viele der Angestellten im Gefängnis sind Analphabeten. Er hat sich an die Regeln gehalten. Für die Funktionsfähigkeit von Recht und Justiz ist die Einhaltung festgelegter Arbeitsabläufe auch nötig.

Das Schicksal von Anton Y. zeigt aber auch, dass die strukturellen Verhältnisse in der Gefängnisverwaltung und im Ministerium verbesserungswürdig sind. Auch die Kommunikationswege zwischen Gefängnis und Ministerium sind ungenügend. Wichtig ist, alle Bereiche in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit zu sehen. Es würde nichts nachhaltig verbessern, wenn nur der Gefängnisangestellte ein Training erhielte – auch das Management des Formularwesens im Ministerium muss geändert werden. Um das Formularmanagement zu verbessern, könnten zum Beispiel Formulare konzipiert werden, die den gesetzlichen Anforderungen entsprechen. Nötig ist aber auch die Benennung eines Verantwortlichen für die zeitige Bestellung von Formularen bei der Druckerei, damit nicht wie im Fall Anton Y. die Formulare ausgehen.

All das kann jedoch nur passieren, wenn Entwicklungsländer bereit sind, aus Pannen zu lernen und beschlossene Veränderungen auch umzusetzen. Verbesserung ohne Lernbereitschaft gibt es nicht. Wenn die GIZ im Auftrag der Bundesregierung mit einem Partnerland zur Unterstützung von Recht und Justiz kooperiert, ist das Lernen und die Veränderung ein gemeinsamer Prozess, der sich vor allem aus Versuch und Irrtum speist. Der Irrtum ist vielleicht die wichtigste Ressource, um Fortschritte in Gang zu bringen.

Gutes Monitoring kann sicherstellen, dass Irrtümer überhaupt erkannt werden. So auch bei dem Beispiel um Anton Y. Ein Wirkungsmonitoring könnte zeigen, dass trotz umgesetzter Maßnahmen, den Angestellten des Ministeriums immer noch die Formulare ausgehen. Weitere Nachforschungen zeigen, dass die Druckerei wegen Zahlungsversäumnissen des Ministeriums die bestellten und gedruckten Formulare regelmäßig zurückhält. Folglich sind Strategien nötig, um einen zuverlässigen Zahlungsvorgang zu gewährleisten und korrupte Praktiken möglichst zu verhindern.

Dieses Beispiel veranschaulicht die Erfahrung der GIZ, dass für erfolgreiche Projekte gemeinsame Lernprozesse der Fachleute von GIZ und Partnerinstitutionen ermöglicht werden müssen. Eine Bedingung ist ein Monitoring- und Evaluierungssystem, um Wirkungen, auch im politischen Umfeld, beobachten und analysieren zu können.

Abweichungen von der Norm signalisieren Handlungsbedarf. Dabei ist ein Lernprozess-Ansatz wenig spektakulär. Er knüpft am Alltagsleben an und versucht dieses Schritt für Schritt zu verbessern.

 

Fragwürdiges ­Gewohnheitsrecht

In vielen einschlägigen GIZ-Vorhaben stehen die staatliche Justiz und das staatlich gesetzte Recht im Mittelpunkt. Viele Partnerländer – nicht nur in Afrika – haben aber neben dem staatlichen Rechtssystem auch noch gewohnheitsrechtliche Justizinstitutionen. Diese sind traditionell überliefert und spiegeln die kulturellen Werte und Gebräuche der Menschen wider. Gewohnheitsrechtliche Normen, Werte und Institutionen bestehen parallel zum offiziellen Rechtswesen. Sie gelten vor allem für diejenigen, die keinen Zugang zum staatlichen Recht haben. Meist ist das die Mehrheit der Bevölkerung, die in Armut lebt.

Die Erfahrungen der GIZ zeigen, dass beide Systeme ihre Vor- und Nachteile haben. Das staatliche Justizsystem ist für arme Bevölkerungsgruppen oft mit zu hohen Kosten verbunden, es ist örtlich nicht präsent und verwendet nicht nur einen schwerverständlichen Jargon, sondern oft sogar die unverständliche Fremdsprache der ehemaligen Kolonialmacht. Zudem kennen die Armen das staatliche Recht nicht. Beim gewohnheitsrechtlichen System ist das anders. Es ist bezahlbar, die für die Konfliktlösung angewendeten Werte sind bekannt, und die Zuständigen sind für alle Dorfbewohner leicht erreichbar.

Allerdings führt gewohnheitsrechtliche Streitschlichtung nicht immer zu menschenrechtskonformen und diskriminierungsfreien Entscheidungen. Das spüren vor allem Frauen auf dem Land. Auch in Konflikten zwischen armen und reichen Dorffamilien sind die Entscheidungen nicht immer unparteiisch. In der Regel setzt sich die einflussreiche Oberschicht durch.

Entwicklungspolitische Ziele können nur erreicht werden, wenn Gewohnheitsrecht berücksichtigt, aber auch der Zugang zu staatlichen Gerichten für Arme gefördert wird. Hinter Begriffen wie „Access to Justice" oder „Legal Empowerment" verbergen sich Konzepte, die vor allem Brücken schlagen zwischen dem Gewohnheitsrecht und dem staatlichen Justizsystem.

 

Flexible Förderung

Formaler Rechtszugang für Arme scheitert oft an den hohen Kosten. Die entstehen jedoch nicht durch Gerichtsgebühren, sondern durch Anwaltshonorare. Ein System der Prozesskostenhilfe, bei dem der Staat wie in Deutschland die Anwaltskosten für Bedürftige übernimmt, übersteigt in der Regel die finanziellen Möglichkeiten des Staates.

Ein Alternativkonzept ist die Einführung von Rechtsberatern ohne formale juristische Ausbildung, aber mit einem Verständnis von bestimmten Rechtsthemen – die sogenannten Paralegals. Ihre Beratung ist für Arme kostenlos oder sehr günstig. Paralegals stammen normalerweise aus der Gegend, in der sie arbeiten. Zudem genießen sie das Vertrauen der örtlichen Polizei und der ansässigen Dorfoberhäupter, die in der Regel Träger der gewohnheitsrechtlichen Streitschlichtung sind. Allerdings gibt es gegen die Einführung eines Paralegalsystems immer einen einflussreichen zivilgesellschaftlichen Gegner. Das ist die organisierte Anwaltschaft im Partnerland. Die Einwände der Advokaten sind wichtig und nachvollziehbar. Denn mit den Paralegals wird aus Sicht der Anwaltschaft eine Berufsgruppe aufgebaut, die mit Dumpingpreisen den Markt für Rechtsberatung unterlaufen könnte.

In den Ländern Westafrikas ist der Beratungsmarkt allerdings geteilt. Anwälte arbeiten praktisch nur in den Städten – und das spiegelt die beschränkte Reichweite der staatlichen Justiz wider. Auf dem Land werden hauptsächlich gewohnheitsrechtliche Institutionen genutzt. Trotzdem geht bei der Förderung eines Paralegalsystems an der Anwaltschaft kein Weg vorbei, ein Kompromiss muss mit ihr ausgehandelt werden.

 

Konsultativ und inklusiv

Interessant ist, wie ein solcher Vergleich im Aushandlungsprozess zustande kommt. Häufig sind Beziehungen zwischen Zivilgesellschaft und Wirtschaft einerseits und dem Staat andererseits durch gegenseitiges Misstrauen geprägt. Die Kultur des Aushandelns und des Interessenausgleichs ist in vielen Entwicklungsländern unterentwickelt. Das gilt im Kontext fragiler Staaten in besonderem Maße. So erlaubt die hohe Akzeptanz der GIZ bei staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren, die Rolle eines unparteiischen Mittlers einzunehmen, der Aushandlungsprozesse initiiert und begleitet.

In der Umsetzung solcher Prozesse verändern sich auch die Beziehungen der beteiligten Akteure. Dazu ein Beispiel aus Sierra Leone: In einer konkreten Vermittlungssituation, die die GIZ in Sierra Leone im Rahmen eines vom Auswärtigen Amt beauftragten Vorhabens unterstützen konnte, hat die Anwaltschaft nach anfänglicher Skepsis einem Rechtshilfegesetz (Legal Aid Act) der Regierung zugestimmt. Dabei musste nicht nur mit der Anwaltschaft und dem Justizministerium, sondern auch mit den beteiligten Nichtregierungsorganisationen, die den Einsatz von Paralegals in Sierra Leone organisieren, Kompromisse erarbeitet werden. Alle Akteure kannten und schätzten die Beratung der GIZ aus anderen Unterstützungsmaßnahmen. Hilfreich waren auch die Vermittlung von Erfahrungen zum Einsatz von Paralegals in anderen afrikanischen Ländern und die gemeinsame Prüfung anderer Handlungsoptionen wie der Prozesskostenhilfe. Das persönliche Kennenlernen im Rahmen von Diskussions- und Arbeitsforen bildete die Grundlage für den Vertrauensaufbau zwischen den Akteuren, der auch nach der Gesetzesverabschiedung Bestand hat. Gleichzeitig haben sich die gegenseitigen Wahrnehmungen und Einschätzungen und damit ihre Beziehungen zueinander verbessert. So entstehen kleine Beiträge zur nachhaltigen Verbesserung von Amts- und Regierungsführung.

Dieser Prozess macht deutlich, dass die Förderung von Recht und Justiz nicht nur in der Vermittlung von Fachwissen besteht, sondern darüber hinausgehen muss. Inklusive und konsultative Umsetzung von Reformen ist vor allem im Rechts- und Justizbereich ein Schlüssel für gesellschaftlich akzeptierte und mithin nachhaltige Ergebnisse.

Das Schicksal von Anton Y. ist traurig. Tröstlich ist, dass viele Entwicklungsländer in Afrika, Asien und Lateinamerika Rechts- und Justizreformen durchführen, um die Menschenrechte zu schützen und die rechtlichen Rahmenbedingungen für eine soziale und ökologische Marktwirtschaft zu verbessern. Außerdem werden in vielen Partnerländern Verwaltungsgerichte eingeführt, die die Beziehungen von Staat und Bürgern auf ein neues praktisches Fundament stellen werden. Im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie des Auswärtigen Amts fördert die GIZ in verschiedenen Projekten einschlägige Reformen. Dazu gehört auch die Förderung eines Paralegalsystems in dem afrikanischen Land von Anton Y. mit dem Ziel, den Rechtszugang für Gefängnisinsassen zu verbessern.

 

Lothar Jahn ist GIZ-Berater und unterstützt Vorhaben der GIZ zur Rechts- und Justizreform in Südosteuropa, Asien und Afrika.
lothar.jahn@giz.de

 

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