Lebensmittelindustrie

Verlust und Verschwendung

Die Zahlen sind alarmierend: Bis zu 40 Prozent der Nahrungsmittel, die weltweit geerntet werden, gehen zwischen Acker und Teller verloren. Ein erheblicher Teil davon sind Nachernteverluste. Deren Verringerung könnte Hunger senken, meinen Experten. Doch die Ansätze der Entwicklungshilfe schießen am Ziel vorbei.
Auch bei Verarbeitung und Verbrauch werden viele Lebensmittel verschwendet: Tropische Fruchtsäfte in einem englischen Supermarkt. Ashley Cooper/Lineair Auch bei Verarbeitung und Verbrauch werden viele Lebensmittel verschwendet: Tropische Fruchtsäfte in einem englischen Supermarkt.

Rein rechnerisch bräuchte Afrika südlich der Sahara kein Getreide zu importieren, wenn es gelingen würde, die Nachernteverluste zu verringern. Das African Postharvest Losses Information System (APHLIS), das die Europäische Kommission 2008 initiierte, schätzt ihren Wert auf umgerechnet rund 4 Milliarden Dollar im Jahr. Das entspricht ungefähr den durchschnittlichen jährlichen Ausgaben für Getreideimporte (2000 – 2007) und ist mehr als die gesamte Nahrungsmittelhilfe, die in den vergangenen zehn Jahren in die Region geflossen ist.

Allein zwischen Ernte und Verarbeitung, also durch Dreschen, Lagerung und Transport, gehen schätzungsweise 20 Prozent der Ernteerträge verloren. Bei Obst und anderen leicht verderblichen Produkten ist es teils doppelt so viel. Hinzu kommen noch die indirekten Auswirkungen, wie der dadurch vergeudete Einsatz von Ressourcen wie Land und Wasser, Betriebsmitteln und Arbeitskraft.

Als vor fünf Jahren der Preis für Grundnahrungsmittel dramatisch anstieg, sind diese Nachernteverluste in den Blick der internationalen Agrar- und Ernährungspolitik geraten. Würden diese Verluste verringert, hoffen die Politiker, könnten sich die Lebensbedingungen von Millionen Menschen verbessern. Auch die Umwelt würde geschützt, wenn knappe Ressourcen wie Böden und Wasser produktiver genutzt würden. Laut dem Bericht „Missing Food“ der Weltbank ist die Verringerung der Nachernteverluste daher ein „wichtiges Element, den wachsenden Nahrungsmittel- und Energiebedarf der Welt zu decken“.

Seither haben unter anderem die UN-Ernährungsorganisation (FAO) und die Global Donor Platform for Rural Development zahlreiche Projekte angestoßen. Für ein Programm zur Verringerung von Nachernteverlusten in Afrika beispielsweise stellten die FAO und die Afrikanische Entwicklungsbank 1,7 Milliarden US-Dollar bereit.

Dieser Ansatz scheint auf den ersten Blick durchaus plausibel. Tatsache ist jedoch, dass in den meisten Ländern des globalen Südens weder klar ist, wie hoch die Nachernteverluste wirklich sind und wie weit man sie verringern könnte, noch, ob dies dann auch den Hungernden helfen würde (siehe Kasten). Die Lösungsansätze der meisten großen Entwicklungsorganisationen jedenfalls scheinen an diesem Ziel bisher vorbeizugehen.


Allzweckwaffe Privatwirtschaft

Bisher nimmt die internationale Entwicklungszusammenarbeit vor allem die Privatwirtschaft als Partner in den Blick. Diese verfolgt schließlich ähnliche Ziele: Seitdem sich in den vergangenen Jahren die industrielle Nahrungsmittelproduktion ausgeweitet hat, kontrollieren die international agierenden Supermarktketten, Agrar- und Handelskonzerne immer mehr die gesamte Warenkette. Sie haben ein steigendes In­teresse daran, Nahrungsmittelverluste bereits am Beginn der Wertschöpfungskette zu mindern, fragen sie doch vor allem jene Waren nach, bei denen die Verluste besonders hoch sind: leicht verderbliche Produkte wie Obst und Gemüse, Milch und Fleisch.

Die Entwicklungszusammenarbeit empfiehlt zur Senkung der Nahrungsmittelverluste daher, die bäuerliche Landwirtschaft weiter in die Vermarktungsketten der Agrarindustrie zu integrieren. Für die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) erscheint die Kooperation zwischen bäuerlichen Betrieben und privatwirtschaftlichen Abnehmern wie Verarbeitungsbetrieben und Supermärkten als Königsweg der Verlustminderung.

Dabei ziehen die Organisationen jedoch kaum in Betracht, dass für die Ernährungssicherheit eher Grundnahrungsmittel wie Reis oder Wurzelfrüchte – etwa Cassava – wichtig sind. Diese sind für die Konzerne jedoch kaum von Interesse. Auch können kleine und arme Betriebe oft nicht den Anforderungen der industriellen Verarbeitung entsprechen, wie etwa gleich bleibende Größe oder Form der Produkte.

Auch mit der Verpackungsindustrie arbeiten die Entwicklungsorganisationen zusammen, so beispielsweise die FAO in ihrer Kampagne „Save Food“. Um ihren Absatzmarkt auszuweiten, liefert die Ver­packungsindustrie in alle Weltgegenden bereitwillig Kühlanlagen, aufwändige Lagerungseinrichtungen und Verpackungen, die auf die Anforderungen von Supermärkten ausgerichtet sind. Diese sorgen dafür, dass weniger Nahrungsmittel auf dem Weg vom Produzenten zum Verarbeitungsbetrieb verderben.

Doch auch hier gilt es, kritisch zu bleiben: Die technologischen und logistischen Innovationen der Industrie zielen vorrangig auf Betriebe, die bereits Überschüsse produzieren, die sie vermarkten können. Zudem müssen die Betriebe über genügend Kapital verfügen, um die Investitionen zu schultern. Arme und Kleinbauern gehören nicht dazu.


Verschwendung

Nun kommt hinzu, dass eine bessere Integration der Kleinbauern in internationale Wertschöpfungsketten gar nicht unbedingt geringere Verluste bedeuten würde. Denn ein erheblicher Teil der Nahrungsmittel wird auch im weiteren Verlauf der Vermarktung und Verwertung verschwendet.

Nicht nur Filme wie „Taste the Waste“, sondern auch zahlreiche Studien zeigen, dass die Nahrungsmittelverluste im industriellen Verarbeitungsprozess, etwa im Einzelhandel oder bei den Verbrauchern, eventuell sogar höher sind als die Nachernteverluste der Bauern. Hinzu kommen noch die Kosten, die durch den weltumspannenden globalen Transport von Lebensmitteln entstehen.

So kommt beispielsweise die erste gründliche Bestandsaufnahme für Deutschland, die im Auftrag des Bundesmininisteriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV) 2012 vorgelegt wurde, zu dem Ergebnis, dass jährlich 11 Millionen Tonnen an Lebensmitteln „entsorgt“ werden, ein großer Teil davon durchaus noch zum Verzehr geeignet.

Fast zwei Drittel davon stammen der Studie zufolge aus Privathaushalten, lediglich 22 Prozent aus Handel und Industrie. Die Studie räumt jedoch ein, dass die mögliche Schwankungsbreite bei Letzteren groß ist. Sie kann in der Lebensmittelindustrie in Deutschland von 210 000 bis 4,6 Millionen Tonnen im Jahr reichen, im Handel von 460 000 bis 4,8 Millionen Tonnen. Damit könnten sie sogar noch weitaus größer sein als die Nahrungsmittelverluste, für die private Verbraucher verantwortlich gemacht werden. Dies alles ist kaum verwunderlich: Denn eine Wirtschaft, die auf Wachstum, Quantität und Umsatz getrimmt ist, produziert nicht nur ständig mehr Waren, sondern auch mehr Verluste, Verschwendung und „Wegwerfmentalität“.


Widersprüche

Die Diskussion über die Verringerung von Nahrungsmittelverlusten ist durch Widersprüche gekennzeichnet: Anders als meist behauptet, ist ihre Bedeutung im Kampf gegen Hunger und Armut unbekannt, bisher vermutlich aber gering (siehe Kasten auf S. 157). Für Hunger- und Armutsminderung müsste die Politik gezielt an den Wurzeln ansetzen – also in Regionen, in denen Hunger herrscht. Stattdessen fördert sie die Ausweitung eines industriellen Ernährungssystems, bei dem Verschwendung und die Produktion von Ausschuss quasi eingebaut sind.

Dabei ist es durchaus korrekt und wichtig, dass Kleinbauern Technologien zum Schutz gegen Ernteverluste erhalten. Auch die bessere Einbindung der Bauern in Absatzmärkte ist im Kampf gegen den Hunger unerlässlich. Allerdings dürfen die Technologien nicht zu teuer oder zu arbeitsintensiv sein, sondern sollten auf die Anforderungen kleiner Betriebe zugeschnitten sein (siehe auch Gradl et al., S. 162 ff.). Das können verbesserte Vorratsspeicher aus Lehm und Holz sein, oder einfache Verarbeitungsmethoden, die Nahrungsmittel haltbarer machen. Dagegen sind Reis-Dreschmaschinen für umgerechnet 5000 US-Dollar oder Maßnahmen zur Rattenbekämpfung, deren Kosten ein Drittel der Ernte entsprechen, für ärmere Bauern kaum nutzbar.

Vor allem brauchen Kleinbauern bessere Produktionsbedingungen wie den Zugang zu Land, Wasser, Saatgut sowie die Einbindung in Absatzmärkte. Die meisten können es sich jedoch kaum leisten, sich dem Standardisierungs-Diktat der Großkonzerne zu unterwerfen. Sie müssen zunächst an lokale Märkte angeschlossen werden. Wenn die Entwicklungspolitik ernsthaft Hunger bekämpfen möchte, sollte sie aufpassen, dass diese Bauern bei ihren Maßnahmen nicht außen vor bleiben. 


Uwe Hoering arbeitet als freiberuflicher Publizist zu entwicklungs­politischen Themen mit dem Schwerpunkt globale Agrar­industrie. Er betreibt den Themendienst Globe-Spotting.
hoering@globe-spotting.de
http://www.globe-spotting.de


 

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