Diplomatische Probleme

Umstrittenes Niemandsland

Die internationale Staatengemeinschaft benötigt verbindliche Regeln über
die Nutzung des Meeres und maritimer Ressourcen. Sonst werden militärische ­Konflikte wahrscheinlicher – zum Beispiel im Südchinesischen Meer.

Von Alan C. Robles

Scarborough Shoal ist ein unbedeutendes Riff im weiten Südchinesischen Meer. Es wurde nach einem britischen Schiff benannt, das dort vor 228 Jahren sank. Nun könnten seine kaum sichtbaren Felsen etwas viel Wichtigeres versenken – nämlich Frieden und Stabilität in der asiatisch-pazifischen Region.

Sowohl die Philippinen als auch China beanspruchen das Riff seit langem. Es liegt 220 Kilometer westlich von Luzon, der größten philippinischen Insel, und ist mindestens 800 Kilometer vom chinesischen Festland entfernt. Der Streit flammte im April wieder auf, als eine philippinische Fregatte chinesische Fischerboote vor dem Riff aufbrachte.

Die Folge war ein maritimes Patt, erhitzter Austausch zwischen Manila und Beijing und schwer belastete diplomatische Beziehungen. Die bleibenden Folgen sind
– ein Riss im Verband Südostasiatischer Nationen (ASEAN),
– die Aussicht der Militarisierung der Region und
– sicherheitspolitische Neubesinnung.
„Die zunehmend verhärtete Haltung der Konfliktparteien hat regionale Spannungen verschärft“, urteilte die unabhängige International Crisis Group (ICG) in einem Bericht im Juli.

Chinas Behauptungswille

Manila gab an, die chinesischen Fischer hätten vom Aussterben bedrohte Arten gejagt. Beijing erwiderte wütend, sie hätten in chinesischem Hoheitsgebiet gefischt, weshalb die Reaktion der Philippinen eine Provokation gewesen sei.

Es spielte keine Rolle, dass die ehrwürdige 47-jährige philippinische Fregatte Gregorio del Pilar ein alter Kutter der US-Küstenwache war. Entscheidend war, dass sie das neuste und größte Kriegsschiff der Philippinen ist. Aus Sicht der Chinesen war der Vorgang ein militärischer Akt, obwohl die Angelegenheit höchstens polizeiliche Mittel erfordert hätte.

Beijing entsandte zivile Überwachungsschiffe, um die Festnahme der Fischer zu verhindern, und ließ bewaffnete Männer auf Schlauchbooten philippinischen Fischern den Zugang zum Scarborough-Riff verwehren. Manila rief die Fregatte zurück und entsandte stattdessen ein Polizeischiff und eine Flugpatrouille. Die verfahrene Situation hielt Wochen an, bis die Philippinen ihr Schiff am Ende abzogen.

Zum Glück sorgte der Disput auf beiden Seiten nur für Sensationspresse, ein paar öffentliche Kundgebungen und große Empörung im Internet. Aus der verbalen Auseinandersetzung wurde kein bewaffneter Konflikt. Allerdings sanken die Beziehungen zwischen beiden Ländern auf den Tiefpunkt, seit Manila 1975 die Volksrepublik anerkannte.

Im Zuge der Auseinandersetzung blockierte China philippinische Bananenimporte und warnte Landsleute vor Reisen auf den Archipel. Unbeeindruckt beharrte aber die Regierung von Präsident Noynoy Aquino darauf, das Riff sei ihr Hoheitsgebiet. Der Staatschef verkündete, das Militär zu modernisieren, und taufte das „Südchinesische Meer“ offiziell in „Westphilippinisches Meer“ um.

Neue Schiffe zu kaufen und ein Meer umzubenennen wird aber nicht viel bringen. Territoriale Streitigkeiten im Südchinesischen Meer sind akut, weil sie viele Interessen unterschiedlicher Länder berühren. Es geht um Schifffahrtswege von globaler Relevanz, Fischgründe und die Aussicht auf Öl und Gas (siehe Box auf S. 426). Michael Leifer, ein Experte für internationale Beziehungen, nannte das Meer „das maritime Herz Südostasiens“.

Es ist durchzogen von Riffen und kleinen Inselgruppen. Manche von ihnen verschwinden bei Flut, die meisten sind unbewohnt. Dennoch beanspruchen die Philippinen, Vietnam, Taiwan, Brunei und Malaysia manche dieser Inseln für sich, um ihr ­Hoheitsgebiet auszudehnen. China überbietet sie aber alle und beansprucht gleich das gesamte Meer, alles, was darunter liegt, und den gesamten Luftraum darüber.

Beijing belegt seinen „unanfechtbaren Anspruch“ mit „historischen Tatsachen“ und bezieht sich dabei auf ein Bündel Dokumente, dessen wichtigstes die „Neun-Punkte-Karte“ ist. Taiwans Regierung entwarf diese „Nine-dash map“ 1947, und die Volksrepublik übernahm sie später. Sie zeigt aber nicht eindeutig an, wo genau Chinas Einflussbereich enden soll.

Beijing weigert sich, seinen Anspruch vor Institutionen wie dem Internationalen Seegerichtshof darzulegen. Das Absurde an dieser Haltung ist, dass ­dieses Gericht zum Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (UNCLOS) gehört, das auch China unterzeichnet hat. China beharrt normalerweise auf multilateralen Regeln, aber in diesem Fall will es sich nicht einengen lassen.

In vergangenen Jahrzehnten konnte ASEAN ­Chinas vage Neun-Punkte-Karte getrost übersehen. Das ist anders geworden. Seit den 1990ern wächst Chinas Wirtschaftskraft rapide. Das Land ist nun eine angehende Supermacht mit einer hochgerüsteten Marine. Huang Jing von der Singapur Lee Kuan Yew School of Public Policy urteilt: „Chinas Aufstieg hat das Szenario tiefgreifend verändert.“ Noch vor fünf Jahren hätten die USA die Region dominiert. „Jetzt brauchen plötzlich alle Länder einen Plan B“, denn es sei nicht möglich, sich nur auf Amerika zu verlassen.

Viele Jahre kultivierte China ein Image von „Soft Power“ und sprach vom friedlichen Aufstieg in Harmonie. Jetzt erleben wir eine andere Haltung und werden Zeugen des Aufstiegs einer großen Macht, die sich mit allen anlegt – den Philippinen, Vietnam, ASEAN und Japan. Zur Entstehungszeit dieses Artikels tobte der Streit um die Senkaku/Diaoyo Inseln im Ostchinesischen Meer, die China und Japan beanspruchen.

ASEAN gespalten

China hat mit diplomatischen Methoden im Juli eine ASEAN-Initiative durchkreuzt. Diese zielte darauf ab, den zehn Mitgliedsländern einen Verhaltenskodex für territoriale Dispute zu geben. Kambodscha verhinderte aber solch ein Ergebnis. Es gehört wie andere Entwicklungs- und Schwellenländer zu der Regionalorganisation, ist aber auch eng mit China verbündet.

Kambodschas Haltung hat ASEAN-interne Spannungen verschärft, denn es gibt mehrere einschlägige Streitigkeiten über Meeresräume. Laut Internationaler Crisis Group „hat China aktiv zum Riss beigetragen und Nutzen daraus gezogen, dass es ASEAN-Mitgliedern bevorzugte Behandlung anbot, wenn sie sich auf seine Seite stellen“.

China beansprucht aus mehreren Gründen das Meer für sich. Einer ist Nationalismus und Sicherheit. Chinas florierende Städte liegen an der Küste. Zur Kolonialzeit wurden sie von europäischen Mächten und später von Japan vom Meer aus angegriffen. Als die Regierung kürzlich einen Flugzeugträger orderte, schrieb die staatliche Tageszeitung China Daily: „Vom Opiumkrieg 1840 bis zur Gründung der Volksrepublik China 1949 hat das Land mehr als 470 Angriffe und Invasionen vom Meer aus erlitten.“

Obwohl Attacken auf das chinesische Festland auf lange Sicht unwahrscheinlich sind, geht die Militärdoktrin der Volksrepublik heute nicht mehr davon aus, die Küste zu verteidigen, sondern definiert Schutzzonen anhand von Inselketten. Die innere Inselkette erstreckt sich von den Kurilen im Norden bis in das Südchinesische Meer und entspricht der bekannten Neun-Punkte-Karte. Bedrohlicherweise verläuft die zweite Inselkette über Japan und die östlichen Philippinen.

Ein weiteres Motiv Chinas sind Bodenschätze. Unter dem Meer könnte es große Öl- und Gasvorkommen geben. Luzon bezieht 40 Prozent seiner Energie von einem Gasfeld vor der philippinischen Insel Palawan. Der Nation droht Streit mit einem expandierenden China, das ihr möglicherweise eines Tages die Erschließung und Nutzung solcher Felder untersagen könnte.

Philippinisches Unbehagen

Die Philippinen müssen mit einem unvorherseh­baren Titanen zurechtkommen. Manila hat bereits bittere Erfahrungen gesammelt. 1994 besetzte China das Mischief-Riff, ein umstrittenes Atoll der Spratly-Inseln. Es liegt nur 209 Kilometer von Palawan entfernt. Genau wie Scarborough Shoal gehört es nach UNCLOS-Kriterien zur Ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ) der Philippinen.

Dennoch errichtete China dort eine Baracke und baute sie nach und nach zum Militärstützpunkt aus. Die damalige philippinische Regierung unter Präsident Fidel Ramos protestierte dagegen, unternahm aber darüber hinaus aus Angst vor bewaffneter Konfrontation nichts. In solch einem Konflikt hätten die Philippinen keine Chance. Ihre Luftwaffe ist praktisch nicht existent und ihre Marine weit unterlegen. Domingo Siazon, ein früherer Außenminister der Philippinen, vergleicht die Situation mit einer Konfrontation zwischen „einem Elefanten und einer Ameise“.

Die westlichen Philippinen wirken verwundbar, jeder Küstenabschnitt könnte von China plötzlich beansprucht werden. Die präzisen Koordinaten seiner Neun-Punkte-Karte bleiben ja unklar. Manche Panikmacher sehen schon Palawan in Gefahr.

Die philippinische Regierung hat nur eine Waffe: Worte. Ein Beamter, der nicht genannt werden möchte, deutet an, das Aussenden der Fregatte zum Scarborough Riff sei nur Teil eines Plans gewesen, öffentlich auf das Problem zu verweisen, Lärm zu schlagen und so einen zweiten Fall wie den des Mischief-Riffs zu verhindern. „Wir mussten die Stimme deutlich erheben“, sagt er.

Die Regierung Aquino hält daran fest, dass die Streitigkeiten auf Basis von internationalem Recht gelöst werden müssen. Im September sagte Außenminister Albert del Rosario: „Unser Hauptinteresse ist dazu beizutragen, dass das globale Sicherheits- und Wirtschaftssystem fest in Rechtsgrundsätzen verankert ist.“

Dies ist diplomatisch verklausuliertes Insistieren auf einer internationalen Entscheidungsinstanz – was China ablehnt. Beijing will allenfalls bilateral verhandeln. Für die Philippinen ist die Lage schwierig. Die Regierung kann entweder die allmähliche Erosion ihres Hoheitsgebiets hinnehmen oder muss sich gegen China auflehnen. Dafür braucht sie Verbündete.

Das Land hat zwar ein wechselseitiges Verteidigungsabkommen mit den USA. Es ist aber unklar, ob es auch im Fall von umstrittenen Territorialansprüchen wie bei dem Scarborough Riff greift. Der frühere Außenminister Siazon urteilt: „Die Philippinen müssen ihre Verteidigungspakte mit den USA, Japan, Singapur, Indonesien, Australien, Neuseeland, Indien und Russland festigen.“

Manila dürfe sich nicht damit abfinden, das Riff zu verlieren, sagt er, und multilaterale Diplomatie sei dabei wichtig. Zugleich fordert Siazon aber auch bilaterale Gespräche: „Lasst tausend Blumen blühen.“ Der frühere Chefdiplomat der Philippinen äußert die Hoffnung: „China wird merken, dass die beste Politik für eine erfolgreiche asiatisch-pazifische Region ist, sich mit den Nachbarn anzufreunden.“ Aus seiner Sicht sind territoriale Streitigkeiten zwischen eng benachbarten Staaten durchaus üblich. Wichtig sei, dass „Beziehungen den Regeln der internationalen Abkommen folgen“.

Die internationale Staatengemeinschaft ist sich der Konsequenzen von Chinas Ansprüchen bewusst. Der Wissenschaftler Leifer schrieb vor Jahren über das Südchinesische Meer: Die Dominanz einer einzigen Macht würde im Lauf der Jahre „weitreichende strategische Konsequenzen im Hinblick auf geopolitische und ökonomische Interessen für regionale und außerregionale Staaten“ nach sich ziehen. US-Präsident Barack Obama hat schon von einer Neubesinnung auf Asien („Pivot to Asia“) gesprochen, was unter anderem die Verlegung des größten Teils der US-Marine in den Pazifik impliziert.

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