Rechtspluralismus

Interkulturelles Modell

In vielen Ländern besteht ein Konflikt zwischen staatlichem Justizsystem und traditionellem Recht. Bolivien tat einen innovativen Schritt und stellte das staatliche dem indigenen Recht gleich. Die Umsetzung des pluralistischen Rechtswesens gestaltet sich aber nicht ohne Probleme.
Traditional authorities resolve inner-community disputes in Bolivia’s Potosí District. Christiane Urban/tdh Traditional authorities resolve inner-community disputes in Bolivia’s Potosí District.

Die Zweifel waren groß, als Casimira Rodriguez vor acht Jahren ein neues interkulturelles Justizmodell auf den Weg brachte. Als Justizministerin im Kabinett des ersten indigenen Präsidenten Evo Morales konnte sie als ehemalige Vorsitzende der Hausangestelltengewerkschaft zwar keinen akademischen Titel vorweisen. Sie wusste aber aus eigener Erfahrung, dass die staatliche Justiz der ärmeren Bevölkerung Boliviens keine Gerechtigkeit widerfahren ließ und ländliche Gemeinden meist überhaupt nicht erreichte.

Die Anerkennung der traditionellen indigenen Recht sprechung sollte die Lösung bringen. In vielen Medien, auch in der deutschen Presse, wurden daraufhin in großer Aufmachung Fälle von Lynchjustiz präsentiert, um das Reformvorhaben als Rückschritt zu brandmarken. Dabei kommt Lynchjustiz in der traditionellen indigenen Rechtsprechung gar nicht vor, denn sie widerspricht deren Respekt vor dem Leben und der Suche nach sozialer Harmonie. In Bolivien ist die Selbstjustiz vor allem Ausdruck der Hilflosigkeit von städtischen Randviertelbewohnern, denen staatliche Polizei und Justiz kaum Schutz bieten.

Dass es inzwischen stiller um die große Reform geworden ist, hat vor allem zwei Gründe. Sie ist besser als ihr Ruf, den westliche Eliten und die Juristenschaft, die um ihre Privilegien fürchtete, prägten. Im „Gesetz zur Abgrenzung der Justizbereiche" ist nicht nur die Todesstrafe ausgeschlossen, sondern es wird zum Beispiel Gewalt gegen Kinder, Jugendliche und Frauen in allen Gerichtsbarkeiten untersagt. Das hat auch die indigene Justiz verändert.

Außerdem ist das politische Interesse an einer umfassenden Umsetzung von Seiten der indigenen Gemeinschaften und vor allem der Regierung zurückgegangen. „Man hat ein wenig das Ziel aus den Augen verloren", kritisiert die ehemalige Ministerin Casimira Rodriguez heute.

 

Dialog zwischen den Systemen

In der Praxis sei es bis zur verfassungsmäßig verankerten Gleichrangigkeit noch ein weiter Weg, findet auch Inti Schubert, der den Reformprozess für die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) begleitet hat. Aber, dass das Verfassungsgericht bereits einige Zuständigkeitsstreitigkeiten zugunsten der indigenen Justiz entschieden habe, zeige: „Es gibt ein Bewusstsein dafür, dass die Gleichrangigkeit eine wesentliche gesetzliche Vorgabe ist." Schubert findet, die Reform habe der indigenen Justiz nicht zu viele Kompetenzen abgesprochen .

Die indigene Justiz von Beginn der Reform an für alle Zuständigkeiten komplett zu öffnen, hätte diese überfordert, glaubt Schubert. Man könne von dem traditionellen Recht indigener Gemeinschaften, die 500 Jahre lang unterdrückt wurden, nicht erwarten, dass es von heute auf morgen komplexe Sachverhalte zur Zufriedenheit aller klärt. Selbst die formellen Gerichte brächten das nicht besser zustande. So sei das Ziel erst einmal, dass die neuen Generationen von Richtern und indigenen Autoritäten sich kennenlernen und die Zusammenarbeit einüben.

In die öffentliche Diskussion gerät die Justizreform nur noch bisweilen, wenn politische und wirtschaftliche Interessen eine Rolle spielen. So geschehen im Fall von Gumercindo Pradel. Der Kokabauer indigener Herkunft ist ein Verbündeter der Regierung Morales, die den Bau einer Überlandstraße durch das indigene Naturschutzgebiet Isiboro Securé (TIPNIS) plant. Indigene Straßenbaugegner peitschten Pradel aus und rechtfertigten sich mit indigener Justiz. Der Täter habe versucht, die Gemeinden zu spalten, argumentierten sie. Pradel dagegen wandte sich an die staatliche Justiz, die ein Verfahren wegen versuchten Mordes eröffnete.

Interessant ist, dass es sich beim Auspeitschen nicht einmal um eine ursprünglich indigene Strafform handelt. Sie wurde von Großgrundbesitzern im 19. Jahrhundert in der Region eingeführt und mit der Zeit von den Einheimischen übernommen. Früher wurden Täter bei schweren Vergehen aus der Gemeinde ausgeschlossen.

Typisch für die indigene Justiz ist, dass es sich um eine mündliche Rechtstradition handelt. Dies eröffnet gerade bei Konflikten mit Akteuren außerhalb der Gemeinden viel Interpretationsspielraum, schafft damit aber zugleich Rechtsunsicherheit.

Doch auch ohne Verschriftlichung verfügt die indigene Justiz über alle zentralen Elemente eines Rechtssystems. Dies zeigte der Jurist Petronilo Flores Condori in drei Fallstudien für das GIZ-Projekt PROJURIDE: Sie hat ein zu schützendes Rechtsgut (etwa den Schutz der Ackerfrüchte), Verfahrensweisen mit Zuständigkeiten (etwa zunächst der Dorfvorsteher und, wenn dessen Entscheidung nicht angenommen wird, die Gemeindeversammlung) und entsprechende Strafen.

Während allerdings die Schlichtungsprozesse früher ausschließlich mündlich vonstattengingen, gibt es heute schriftliche Nachweise der Gemeindeversammlungen, die immer wichtiger werden. Sie werden zu Rate gezogen, wenn Dorfautoritäten allein mit Rat und Ermahnung Rechtsstreitigkeiten nicht haben beenden können.

 

Konkrete Fälle

Indigene Justiz funktioniert laut Inti Schubert umso besser, je stärker die Bindungen des Einzelnen an die Gemeinde ist. Das zeigen die Fälle, die Flores Condori in seiner Studie beschrieben hat. Ein Beispiel berichtet von einer Guaraní-Gemeinde im Tieflandbezirk Charagua. Es ging um einen unter Alkoholeinfluss verübten Racheangriff, der vor einem normalen Gericht als Mordversuch hätte gewertet werden können.

Die Gemeinde löste den Fall jedoch intern, indem die Dorfautoritäten zwischen den Familienangehörigen von Täter und Opfer schlichteten. Eine wirkliche Sanktion gab es am Ende nicht. Der Täter hatte sein Opfer nach eigenen Angaben deshalb angegriffen, weil das Opfer Gerüchten zufolge seine Mutter verhext und so zu ihrem Tod beigetragen habe. Die Autoritäten lösten den Fall, indem sie darauf verwiesen, dass Hexerei schwer nachzuweisen sei. Der Täter sollte sich entschuldigten und dem Opfer versprechen, es in Ruhe zu lassen. Auch ein Fall von Gewalt gegen Kinder wurde von den lokalen Autoritäten gelöst, obwohl diese laut Gesetz nicht dafür zuständig sind.

Von einem umgekehrten Fall berichtet Flores Condori aus dem Landkreis Sakaka im Bergland in der Region Potosí. Nach einem gewalttätigen Streit habe der Geschlagene nicht mehr laufen können. Obwohl die indigenen Autoritäten laut Gesetz zuständig waren, empfahlen sie dem Opfer, sich an die staatliche Justiz zu wenden. Der Fall schien zu delikat, um ihn mit den eigenen Mitteln zu lösen. Der Zusammenhalt des Dorfes war gefährdet.

Zuständigkeitskonflikte sind tatsächlich die Ausnahme. In vielen, weniger traditionellen Landgemeinden ist indigene Justiz ohnehin fast nicht existent, oder wird nur noch bei Delikten wie ehelicher Untreue eingesetzt. Denn diesen Tatbestand gibt es im formalen Recht nicht. Aber auch in den indigenen Kulturen verändert sich das Rollen- und Rechtsverständnis, so dass eheliche Untreue immer seltener verfolgt wird.

Jhonny Herbas, Agronom der Nichtregierungsorganisation Pusisuyu unterstützt in Sakaka die Gemeinden bei der Bewältigung der Klimawandelfolgen. Er kennt die Gebräuche der Dörfer und weiß, dass man sich fast monatlich trifft. Wenn jemand eine Klage vorzubringen hat – wie gestohlenes Vieh, Schläge gegen die Frau oder Landstreitigkeiten – dann wird das auf der Versammlung geregelt, und der Schaden anschließend beglichen. Wenn es über die enge Dorfgemeinschaft hinausgeht, stoßen die traditionellen Konfliktlösungsmechanismen jedoch häufig an ihre Grenzen.

Während früher ganze Regionen von indigenen Organisationsstrukturen verwaltet wurden, sind diese im letzten Jahrhundert immer schwächer geworden. Bedauerlicherweise ist die Förderung übergemeindlicher indigener Organisationsstrukturen in den Hintergrund staatlicher Politik geraten. So werden auch die Möglichkeiten, Rechtsstreitigkeiten schnell, unbürokratisch und billig zu lösen immer geringer. Die Kritiker der indigenen Justiz sollten deshalb nicht die Angst vor einer vermeintlichen Rückkehr in die Barbarei schüren, sondern die politischen Entscheidungsträger sollten die indigene Justiz weiter stärken. Denn diese fördert den Zusammenhalt der Gemeinschaften und damit ihre wirtschaftliche und soziale Entwicklung.

 

Peter Strack ist Koordinator des Südamerikabüros von terre des hommes in Cochabamba, Bolivien.
strackcocha@yahoo.de

 

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