Argentinien

Wie Kinder verschwanden

Von 1976 bis 1983 herrschte in Argentinien eine Militärdiktatur. In dieser Zeit wurden 30 000 Menschen verschleppt, gefoltert und getötet – Linke, Gewerkschafter, Menschenrechtsanwälte und andere Regimegegner. Weil nicht einmal ihre Familien wussten, wo sie waren, sprach man von „Verschwundenen“.

Von Sheila Mysorekar

Darunter waren auch Schüler, Studenten und sogar Kinder. Babys wurden zusammen mit ihren Eltern entführt; andere wurden in geheimen Internierungslagern geboren, wo schwangere Frauen inhaftiert waren. Es gab die Regel, diese Frauen bis zur Geburt leben zu lassen. Danach töteten die Militärs die Frauen und gaben die Säuglinge Familien, die der Polizei oder dem Militär verbunden waren. Das Regime hielt die Opposition für eine irregeführte intellektuelle Elite und betrachtete deren Kinder als genetisch wertvoll. Es war bereit, sie aufzuziehen.

Die Kinder wuchsen auf, ohne zu wissen, dass sie adoptiert waren. Sie lebten mit Familien, die Komplizen oder Mitwisser bei dem Mord an ihren Eltern waren. Kinder, die so „verschwanden“, wurden ihrer Iden­tität, ihrer Familie, ihrer Reli­­­gi­on und ihrem Recht, bei ihren Angehörigen aufzuwachsen, beraubt.

Die Familien der schwangeren Gefangenen versuchten natürlich, diese Babys zu finden, aber erfolglos. Einige Großmütter taten sich zusammen und gründeten 1977 die nichtstaatliche Organisation Abuelas de Plaza de Mayo (Großmütter der Plaza de Mayo). Die Abuelas schätzen, dass rund 500 Kinder und möglicherweise mehr so entführt wurden.

Oft erstatteten die Verwandten aus Furcht oder Unwissenheit keine Anzeige. Die Abuelas halten die Entführungen für eine Repressionsmethode und fordern die Rückgabe aller Enkelkinder. Um die gestohlenen Kinder zu finden, sichteten sie Gerichtsdokumente, recherchierten in Geburtenregistern und vieles mehr. Seit 1997 laden sie junge Leute, die Zweifel an ihrer Identität haben, mit öffentlichen Kampagnen ein, die Organisation zu kontaktieren. Viele Betroffene ahnten, dass in ihrer Lebensgeschichte etwas nicht stimmte. Diese Kampagnen sind recht erfolgreich.

Die Abuelas veröffentlichen Zeitungsanzeigen und appellieren an Menschen, die relevante Informa­tionen haben, aber bisher aus Angst oder Komplizenschaft schweigen. Die Großmütter wollen zeigen, dass ihre Enkelkinder nicht vergessen wurden und dass diese das Recht haben, ihre Wurzeln und ihre Geschichte zu kennen – und dass sie Verwandte haben, die immer noch nach ihnen suchen. Die Identität vieler Kinder wurde komplett verheimlicht. In solchen Fällen kann Angehörigkeit aber mit Hilfe der Wissenschaft bewiesen werden. Genetiker, Hämatologen und Morphologen unterstützen die Abuelas.

Bis heute wurden 106 verschwundene Kinder gefunden. Manche leben nun bei ihren Blutsverwandten. Andere leben noch bei den Familien, die sie aufgezogen haben, stehen aber in engem Kontakt mit ihren echten Großmüttern und Familien. Es gibt leider auch Fälle, wo Kinder identifiziert wurden, sich aber unter dem Druck der Adoptiveltern weigerten, zum Beweis einen Bluttest zu machen. (my)

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