Dysfunktionales Justizwesen

Mexiko braucht Chancen statt Gewalt

Hohe Erwartungen hatte Mexikos Bevölkerung an ihre aktuelle Regierung, die mit Präventionsarbeit die Kriminalität und Unsicherheit im Land eindämmen wollte. Bisher ist das nicht gelungen. Angesichts der hohen Kriminalitätsrate und unzureichender Strafverfolgung sinkt das Vertrauen in den Staat und in seine Institutionen.
Angehörige von Mordopfern befestigen Plakate mit Porträts der Getöteten an der Wand am Eingang des Büros der Generalstaatsanwaltschaft von Mexiko-Stadt und fordern Gerechtigkeit. picture-alliance/NurPhoto/Eyepix Angehörige von Mordopfern befestigen Plakate mit Porträts der Getöteten an der Wand am Eingang des Büros der Generalstaatsanwaltschaft von Mexiko-Stadt und fordern Gerechtigkeit.

„Umarmungen statt Kugeln“ hatte die Regierung von Präsident Andrés Manuel López Obrador versprochen, als sie 2018 ihre Arbeit antrat: Unter diesem Motto wollte sie insbesondere gegen das organisierte Verbrechen und die grassierende Gewaltkriminalität vorgehen. Sie schlug damit – zumindest rhetorisch – eine neue Richtung ein, hatten die Vorgängerregierungen doch vor allem auf Militarisierung und Konfrontation gesetzt. Sie ging damit auch einen anderen Weg als etwa das zentralamerikanische El Salvador, dessen Präsident Nayib Armando Bukele Ortez mit großer Härte und höchst öffentlichkeitswirksam gegen Drogenhandel und Bandenwesen vorgeht. Auf Social Media kursieren Videos von Masseneinweisungen mutmaßlicher Gangmitglieder.

In Mexiko sollte es anders funktionieren. „Wir wollen Frieden“, postulierte López Obrador. Anstelle des „Kriegs gegen Drogen“ seiner Amtsvorgänger wollte er Bildung und Perspektiven für junge Menschen schaffen; statt an spektakulären Festnahmen wollte er sich an sinkenden Kriminalitätsraten messen lassen. Unter anderem dafür wurde er gewählt.

Doch die hohen Erwartungen der Bevölkerung wurden bisher nicht erfüllt: Die Zahl der ungesühnten Straftaten steigt und mit ihr Unzufriedenheit und Misstrauen in das Justizwesen. Zum Ende der letzten Legislaturperiode 2018 hatte das Vertrauen der Bevölkerung in die Generalstaatsanwaltschaft bereits einen Tiefpunkt erreicht. Nur etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung (57,5 Prozent) hatte damals „etwas“ oder „viel Vertrauen“ in die Institution. Dem Nationalen Institut für Statistik und Geografie (INEGI) zufolge stieg der Wert nach dem Amtsantritt der neuen Regierung zwar zunächst bis auf 65,8 Prozent im Jahr 2021, sinkt seitdem aber schon wieder. Dieser Abwärtstrend könnte bis zum Ende der Amtszeit anhalten.

Das Misstrauen der Menschen in das Justizwesen hat mehrere Gründe, vor allem aber zwei: Zum einen ist da die ineffiziente Strafverfolgung. Für viele ist der Rechtsstaat nur dann erfolgreich, wenn er Verbrechen hart bestraft; an Rehabilitation oder soziale Wiedereingliederung glauben die wenigsten. Zum anderen ist da die Korruption: Die Menschen haben den Eindruck, dass das Recht nur für einige wenige gelte.

Zu wenig Personal, zu wenig Qualifizierung

Ein Hauptgrund für die defizitäre Strafverfolgung ist die Überlastung und unzureichende Ressourcenausstattung des Justizwesens. Immer wieder werden Anklagen deswegen fallen gelassen und Straftäter*innen freigelassen. Im Jahr 2019 wurden laut INEGI über 2 Millionen Ermittlungsverfahren in den verschiedenen Staatsanwaltschaften eröffnet, was aufgrund der begrenzten Anzahl von Staatsanwält*innen zu einer enormen Arbeitsbelastung führte. Auf jede*n Anklagevertreter*in kamen rund 290 Fälle. Die Situation hat sich seitdem noch weiter verschärft, wie der Índice Global de Impunidad México (Allgemeiner Index für Ungleichheit in Mexiko) zeigt: Die Zahl der Staatsanwält*innen pro tausend registrierte Straftaten sank von neun im Jahr 2018 auf 8,58 im Jahr 2022.

Bei den Sicherheitsbehörden sieht es nicht viel besser aus. Am besten ist noch der Bundesstaat Mexiko-Stadt ausgestattet, in dem 3,7 Polizeibeamt*innen auf tausend Einwohner*innen kommen. Im bevölkerungsreichsten Bundesstaat, dem Estado de México, sind es hingegen nur 0,9 Beamt*innen.

Hinzu kommt, dass es an qualifiziertem Personal mangelt. Dies beginnt schon bei den ersten Ermittler*innen vor Ort, die oft nur über einen geringen Bildungsgrad verfügen – in der Regel einen Sekundarschulabschluss – und für ihren risikoreichen Job schlecht bezahlt werden. Sie handeln oft nach der weit verbreiteten Vorstellung, dass diejenigen, die Recht brechen, selbst keine Rechte haben. Wenn sie mutmaßliche Kriminelle zu fassen bekommen, sich bei der Festnahme aber nicht an die Verfahren halten oder sogar Menschenrechtsverletzungen begehen, müssen diese häufig wieder freigelassen werden.

Korruption und Straffreiheit

Auch Korruption führt oft zu Straflosigkeit. Das reicht von kleinsten Vergehen, bei denen Betroffene mit Bestechungsgeldern davonkommen, bis hin zu Fällen von großer Tragweite, bei denen Regierungsbeamt*innen und Unternehmen involviert sind. Wer sich eine gute Verteidigung leisten kann oder gar Verbindungen zur Justiz hat, kann sich einer Strafe oft entziehen. Das Ergebnis ist dann häufig: Straffreiheit für die Privilegierten und ein Gefühl der Ungerechtigkeit in der Bevölkerung.

Dieses Gefühl, dass ohnehin „nichts passiert“ und Straftäter*innen davonkommen, führt auch dazu, dass die Bevölkerung die meisten Verbrechen gar nicht erst zur Anzeige bringt. Hier spielt zudem die Angst vor Vergeltung eine Rolle. 2021 wurden über 90 Prozent der Straftaten nicht angezeigt, wie die Nationale Umfrage zur Opferrolle und zur Wahrnehmung von öffentlicher Sicherheit nahelegt. Davon sind auch schwere Verbrechen wie Entführungen nicht ausgenommen, bei denen die Dunkelziffer bei schätzungsweise 98,6 Prozent liegt.

Erhebungen zufolge führen die Ermittlungen zudem bei rund der Hälfte der Anzeigen zu keinem Ergebnis. In den sozialen Netzwerken verbreiten sich Fotos und Videos von Fällen, bei denen die Täter*innen auf frischer Tat ertappt werden. Umso frustrierender ist dann für die Öffentlichkeit, wenn die Behörden sie trotz klarer Beweise nicht vor Gericht bringen.

Den Kartellen etwas entgegensetzen

Die weit verbreitete Straffreiheit, mit der die Drogenkartelle im Land operieren können, ist einer der Hauptkritikpunkte an der aktuellen Regierung. Bilder aus dem September 2023 zeigen, wie die Einwohner*innen einer Gemeinde in Chiapas das Sinaloa-Kartell scheinbar willkommen heißen, da dieses sie vermeintlich von der Vorherrschaft eines anderen Kartells „rettete“. In solchen Regionen sind die Behörden kaum präsent: Die einzigen, die einer kriminellen Gruppe Paroli bieten können, scheinen andere kriminelle Vereinigungen zu sein. Der Slogan „Umarmungen statt Kugeln“ wird daher längst nicht mehr nur von der Opposition kritisiert – auch unter Anhänger*innen der Regierung verliert er an Glaubwürdigkeit.

Dabei sind Straflosigkeit und Korruption keine Besonderheit der aktuellen Legislaturperiode. Besonders drastisch war der Fall des sogenannten „Superbullen“ Genaro García Luna, der als Minister für öffentliche Sicherheit von 2006 bis 2012 unter Präsident Felipe Calderón einer der höchstrangigen Beamten im Kampf gegen den Drogenhandel war und der auch unter Präsident Enrique Peña Nieto gute Beziehungen zu Regierungskreisen pflegte. Nun muss er sich vor einem US-Gericht verantworten: Er soll mit Kartellen zusammengearbeitet und sie geschützt haben. Er nutzte also seine Amtszeit, um von den höchsten Rängen der Macht aus völlig ungestraft Verbrechen zu begehen. Seine Vorgesetzten wollen dies nicht bemerkt haben, obwohl der von ihm geführte „Krieg gegen die Drogen“ ganz offensichtlich ins Leere lief.

Schließlich bleibt auch die Frage der Unabhängigkeit der Richter*innen. Der Präsident erhob zuletzt vermehrt Vorwürfe gegen die Justizbehörden und prangerte neben deren Privilegien auch Korruption an. Ein Anlass war die Meldung der Marine, in den Jahren 2021 bis 2023 sei die Hälfte der Personen, die sie wegen Drogenhandels oder Kraftstoffdiebstahls festgenommen hatte, auf richterliche Anordnung hin wieder freigelassen worden – und einige seien erneut straffällig geworden. Solche Fehlschläge liegen aber häufig an Ermittlungsdefiziten sowie daran, dass das organisierte Verbrechen Druck ausübt. Es schüchtert Richter*innen ein, indem es ihre Familien und das engste Umfeld bedroht. Mindestens acht Staaten gelten als Hochrisikostaaten – wer hier an Fällen des organisierten Verbrechens arbeitet, braucht besonderen Schutz.

Die Kriminalität zu bekämpfen ist eine gewaltige Herausforderung für Mexiko. Die Bevölkerung sehnt sich nach einem Ende von Gewalt und Unsicherheit. Da liegt auch ein Blick auf El Salvador nahe: Funktioniert das brachiale Vorgehen? Wäre es auch in Mexiko angebracht? Welcher Preis ist zu hoch, um der Kriminalität endlich ein Ende zu setzen?

Doch die repressive Verfolgung des Bandenwesens hat ihren Preis. Menschenrechtsvergehen werden billigend in Kauf genommen, und allzu oft landen Unschuldige hinter Gittern. Noch bevorzugen die meisten Menschen in Mexiko andere Herangehensweisen. Das Motiv ist vielleicht nicht so sehr grundsätzlicher Respekt vor den Menschenrechten. Sie wollen aber nicht, dass Sicherheitskräfte, denen sie misstrauen, Vollmachten zu willkürlichem Handeln bekommen.

Virginia Mercado ist Wissenschaftlerin an der Universidad Autónoma del Estado de México und Lehrkraft für Friedens- und Entwicklungsstudien.
virmercado@yahoo.com.mx

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