Identitätspolitik

Verrat an Indiens Demokratie

Was Nationalismus in Indien bedeutet, wird derzeit umdefiniert. Bislang wurden alle Religionen und Kulturen eingeschlossen, aber jetzt soll nur noch die fundamentalistische Weltsicht der rechten Regierungspartei BJP (Bharatya Janata Party) gelten. Sie ist der politische Arm der Hindu-chauvinistischen Organisation Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS).
RSS-Mitglieder meinen, sie könnten entscheiden, wer gute Inder sind. Deepak Sharma/AP Photo/picture-alliance RSS-Mitglieder meinen, sie könnten entscheiden, wer gute Inder sind.

1948 tötete das RSS-Mitglied Nathu Ram Godse Mahatma Gandhi. Der Mörder gilt manchen heute als Idol, und säkular-liberal denkende Inder werden als unpatriotisch beschimpft. Viele Inder finden das schrecklich. Andere – besonders in den höheren Kasten – sind begeistert.

Durchschnitts-Inder haben ernste wirtschaftliche Sorgen. Die Arbeitslosigkeit wächst und der ländliche Raum leidet unter jahrelanger Dürre. Überschuldete Bauern bringen sich um. An den Universität tobt Protest auf, weil die Hindu-Chauvinisten Dekane berufen, die akademisch nichts bieten, weil sich Wahlversprechen als Lügen entpuppen und weil die Rechte der benachteiligten Kasten (der Dalits) missachtet werden.

Die Machthaber schränken den kreativen Ausdruck von Autoren und Filmemachern ein, die ihrem rechten Weltbild nicht entsprechen. Repression ist aus ihrer Sicht der Kern „guter“ Amtsführung. Im mehrsprachigen, multikulturellen und religiös vielfältigen Indien propagieren sie einen Nationalismus „einer Sprache, eines Glaubens und einer Kultur“. Zugleich wird das föderale Wesen der Verfassung ausgehöhlt, weil die BJP mit rechtlichen und administrativen Tricks Landesregierung, die nicht ihrer Linien folgen, beseitigt. 

Alle Freiheiten lassen ich aber nicht unterdrücken. Die Justiz ist unabhängig, und viele Richter halten demokratische und säkulare Prinzipien hoch. In fünf Bundesstaaten wird gewählt und voraussichtlich werden 170 Millionen Wähler die BJP schlecht aussehen lassen. Zeitungen können noch entscheiden, ob sie die Regierung unterstützen oder nicht. In den sozialen Medien wird heiß pro und contra Regierung diskutiert.

Derweil greifen Beamte zunehmend zu direkter und indirekter Repression. Zu den vielen prominenten Beispielen gehören unter anderen:

  • Teesta Setalvad, eine zivilgesellschaftliche Aktivistin, die sich für die Opfer des anti-islamischen Pogroms von 2002 in Gujarat einsetzt, wurde gesellschaftlich, politisch und juristisch bedrängt. 2002 war Narendra Modi, der heutige Premierminister, übrigens Ministerpräsident von Gujarat.
  • Priya Pillai, ein Führungsmitglied von Greenpeace, wurde von einer Londonreise abgehalten. Dort wollte sie darüber berichten, wie im Bundesstaat Madhya Pradesh im Zuge eines Minenprojekts die Rechte von Waldbewohnern verletzt werden.
  • Dr. Saibal Jana, der Adivasi praktisch gratis behandelte, wurde festgenommen. 
  • G.N. Saibaba, ein kranker, Rollstuhl-fahrender Professor der Universität Delhi, wurde auf unmenschliche Weise inhaftiert, weil er sich für marginalisierte Menschen engagierte.

An den Hochschulen war die Stimmung bereits geladen, als sich der Dalit-Student Rohith Vemula in Hyderabad das Leben nahm. Er sah unter den zunehmend diskriminierend agierenden Akademikern keine Zukunft. Sein Suizid löste Proteste aus. An der angesehenen Jawaharlal Nehru University in Delhi (JNU) wehrten sich Studierende gegen Gewalt und begrenzte Gedankenfreiheit. Die Situation eskalierte, als Kanhaiya Kumar, der Vorsitzende des JNU-Studentenausschusses und Spitzenmann der Hochschulorganisation der Kommunistischen Partei Indiens, festgenommen wurde.

Gefälschte Beweise sind mittlerweile normal. Manchmal schaut die BJP-Regierung auch zu, wenn Angehörige ihrer Hochschulorganisation oder bezahlte Schläger Gewalt ausüben. Kanhaiya wurde im Polizeigewahrsam von BJP-nahen Rechtsanwälten verprügelt.

Parteigänger nennen alles, was nicht ihren Vorstellungen entspricht, unpatriotisch. Sie missachten die Werte der indischen Verfassung und die darin verankerten Bürgerrechte. RSS und BJP meinen plötzlich, sie könnten entscheiden, wer die „guten“ Inder sind. Gute Inder essen kein Rindfleisch – und die Strafe kann nun Mord sein. Gute indische Frauen kleiden sich auf bestimmte Weise – und die Strafe kann Festnahme sein. Jedenfalls schreien gute Inder: „Bharat Mata Ki Jai“ (Heil Mutter Indien).

In ihrem Indien zählt die Wachstumsrate, nicht Verteilungsgerechtigkeit oder ökologische Ethik. Blinder Glaube an fundamentalistische Dogmen ist angesagt. Indiens stolze Demokratie geht langsam kaputt.

Aditi Roy Ghatakist freie Journalistin und lebt in Kolkata.
aroyghatak1956@gmail.com

 

 

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