Humanitäre Hilfe

Das Dilemma der Neutralität

Den Anspruch der Hilfsorganisationen, unparteiisch Menschenleben zu retten, akzeptieren Akteure in Krisenländern wie Syrien, Afghanistan und Somalia oft nicht. Als Geber, Partner und politischer Akteur sieht sich Deutschlands Auswärtiges Amt in diesem Kontext in einer dreifachen Rolle, wie Staatssekretärin Emily Haber erläutert.

Von Emily Haber

Die Rolle der Neutralität humanitärer Hilfe in Konflikten könnte aktueller nicht sein: Die Gewalt in Syrien und die Berichte über Opfer und Leiden der Bevölkerung dort führen die Notwendigkeit effektiver humanitärer Hilfe eindringlich vor Augen. Zugleich illustriert der Konflikt in Syrien auf bedrückende Weise die Grenzen humanitärer Hilfe: Wenn staatliche Akteure den Zugang für Hilfe behindern und grundlegende Regeln des humanitären Völkerrechts missachten, sind Lebensrettung und Überlebenssicherung nicht oder nur eingeschränkt möglich. Schlimmer noch: Auch die Sicherheit der Helfer selbst wird missachtet oder vorsätzlich beeinträchtigt.

Ähnliche Herausforderungen stellen sich auch in anderen Konflikten. Das ist der Fall,
– wenn im Sudan die Regierung den Zugang internationaler Helfer in die Regionen Süd-Kordofan und Blue Nile verweigert,
– wenn in Somalia die Al-Shabab-Milizen fast alle Hilfsorganisationen aus den von ihnen kontrollierten Gebieten verweisen oder
– wenn es in Afghanistan regelmäßig zu Behinderungen, Übergriffen und Gewalttaten gegenüber Hilfsorganisationen und ihren Mitarbeitern kommt.

Drängende Fragen

Wie kann die internationale humanitäre Hilfe ihre Arbeit zu Gunsten Bedürftiger in Krisengebieten weltweit dennoch fortsetzen? Wie kann das von den Vereinten Nationen in einer vom Auswärtigen Amt finanzierten Studie postulierte Motto „to stay and deliver“ umgesetzt werden? Wie können Regierungen aktiv Außenpolitik gestalten – und zugleich neutrale humanitäre Hilfe ermöglichen? Und wie kann die Sicherheit humanitärer Helfer gewährleistet werden?

Das Auswärtige Amt sieht sich in der humanitären Hilfe in einer dreifachen Rolle: Es ist zugleich Geber, Partner und politischer Akteur.

Als Geber verantwortet es die für humanitäre Hilfe vorgesehenen Haushaltsmittel der Bundesregierung. Bei deren Umsetzung orientiert es sich an den international vereinbarten „Regeln guter ­humanitärer Geberschaft“. Dies bedeutet zum einen, Hilfsgelder bedarfsorientiert, flexibel und unbürokratisch bereitzustellen. Es bedeutet weiterhin, die führende Rolle der UN zu unterstützen, die für eine effektive internationale Koordinierung ­alternativlos ist. Es bedeutet schließlich auch, das humanitäre Völkerrecht und die humanitären Prinzipien – Menschlichkeit, Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Neutralität – zu achten und zu fördern.

Neutralität hebt dabei nicht auf die politische Haltung des Gebers, sondern auf die Art der geleisteten Hilfe ab. Diese darf weder eine Konfliktpartei bevorzugen noch eine Position in dem Konflikt beziehen. Es ist deshalb aus gutem Grund, dass das Auswärtige Amt in der Umsetzung der humanitären Hilfe mit unabhängigen Partnern zusammenarbeitet. Aus ebenso gutem Grund beauftragt es auch keine humanitären Vorhaben, sondern gibt finanzielle Zuwendungen zu Maßnahmen, die Hilfsorganisationen auf Basis ihrer eigenen Mandate initiieren und in eigener Verantwortung durchführen.

Das führt zum zweiten Teil des humanitären Selbstverständnisses: Partnerschaft. Gerade weil die Bundesregierung über keine humanitäre Durchführungsorganisa­tion verfügt und dies auch nicht will, kommt einer vertrauensvollen Partnerschaft mit den humanitären Organisationen besondere Bedeutung zu. Zunächst aus ganz praktischen Gründen: In einer akuten Notlage müssen Entscheidungen über Art und Umfang von Hilfe innerhalb weniger Tage oder Stunden getroffen werden. Dies setzt wechselseitiges Vertrauen voraus, das wiederum nur durch regelmäßigen und offenen Austausch zu erwerben ist.

Vertrauen und Partnerschaft sind aber auch Voraussetzungen, um Informationen, Einschätzungen und Bewertungen zu Konflikten mit humanitärem Bedarf und politisch sensiblen Aspekten auszutauschen. Mit unseren deutschen Partnern leistet das Auswärtige Amt dies regelmäßig im Koordinierungsausschuss humanitäre Hilfe. Dies ist eine in Europa einzigartige Plattform. Mit unseren internationalen Partnern, wie dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz oder den Vereinten Nationen, erfolgt dies periodisch wie fallbezogen.

Ein konkretes Beispiel im Zusammenhang mit der Syrien-Krise: Mitte Februar haben sich Vertreter wichtiger internationaler Hilfsorganisationen und Geberstaaten im Auswärtigen Amt getroffen, um über Möglichkeiten eines besseren humanitären Zugangs in Syrien zu sprechen – ein naturgemäß vertraulicher und unverbindlicher Dialog, der aber Ausdruck und Voraussetzung für wechselseitiges Verständnis zwischen operativen Hilfsorganisationen und politisch handelnden Gebern ist.

Damit ist das dritte Element des humanitären Selbstverständnisses genannt: Auch als politischer Akteur setzt sich das Auswärtige Amt für bedarfsgerechte, an den humanitären Prinzipien orientierte Hilfe ein. In konkreten Konflikten erfolgt dies bilateral, in Absprache mit EU-Partnern oder im UN-Sicherheitsrat. Konkrete Beispiele sind das beharrliche Werben für humanitären Zugang im Sudan, das Eintreten für humanitäre Ausnahmeregelungen bei den UN-Sanktionen gegenüber Somalia oder die Berücksichtigung humanitärer Überlegungen bei der Formulierung der Mandate von Blauhelm-Missionen.

Missverständnisse aufklären

Verständnis und Akzeptanz neutraler ­humanitärer Hilfe werden aber auch grundsätzlich diskutiert und verteidigt. Im UN-Rahmen sind es häufig die klassischen Empfänger humanitärer Hilfe, die die für uns selbstverständlichen Prinzipien hinterfragen. Neutralität wird dabei oft als Unterstützung oppositioneller Gruppen inter­pretiert, Unabhängigkeit als Verletzung nationaler Souveränität verstanden. Entsprechend setzt sich das Auswärtige Amt regelmäßig dafür ein, diese Miss­verständnisse aufzuklären, und wirbt für ­Berücksichtigung der humanitären Prinzipien in den einschlägigen Resolutionen der UN-Generalversammlung und des ­Sicherheitsrates.

Diese Argumentationslinien veranschaulichen aber auch, dass die Logik humanitärer Hilfe Grenzen hat – und haben muss. Nur wenn sie sich auf ihr Kernmandat beschränkt, kann sie ihre Akzeptanz überzeugend begründen. Wenn sie sich Ziele setzt, die über Lebensrettung und Überlebenssicherung hinausgehen, bewegt sie sich in Bereiche der Entwicklungs-, Gesundheits oder Menschenrechtspolitik – und ist nicht mehr neutral.

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