Wahlen

Irak: Wahlen ohne nationale Versöhnung

Eine Demokratie beruht nicht nur auf Wahlen. Das ist inzwischen unbestritten.
Doch sind freie und faire Wahlen ein Hauptbestandteil einer funktionierenden Demokratie. Um freie und faire Wahlen abzuhalten, müssen bestimmte Voraussetzungen geschaffen werden. Eine davon ist Rechtsstaatlichkeit, eine weitere das Gemeinschaftsgefühl der Bürger. In einem Land wie dem Irak könnte dies die größte Herausforderung beim Aufbau eines demokratischen Staates sein.

[ Von Ghassan Atiyyah ]

In jedem Land, das religiös und ethnisch gespalten ist, sollte den Wahlen eine Phase der nationalen Versöhnung vorangehen. Nur so wird die Stimmabgabe als Teil der neuen Spielregeln akzeptiert. Tatsächlich tendieren Länder mit fehlenden demokratischen Traditionen jedoch dazu, das Wahlsystem für ethnische und religiöse Zwecke zu missbrauchen.

Der Irak ist ein extrem diverses Land – sowohl in ethnischer als auch in religiöser, sozialer und kultureller Hinsicht. In der Vergangenheit wurden diese Unterschiede unterdrückt. Differenzen wurden übertüncht, eine Auseinandersetzung fand nicht statt. Die US-geführte Invasion in den Irak und das Fehlen effektiver Nachkriegspläne öffnete die Tore für einen neuen Krieg – den Krieg der Identitäten zwischen den ethnischen und religiösen Gruppen im Irak – den Kurden, den Schiiten und den Sunniten.

Eilige Wahlen

Da Amerika keinen Plan für die Zeit nach dem Sturz Saddam Husseins hatte und sich die Sicherheitslage zunehmend verschlechterte, wollte die Übergangbehörde (Coalition Provisional Authority, CPA) möglichst schnell Wahlen abhalten. Der wachsende Druck der Schiiten, besonders die Macht von Großajatollah Al-Sistani in Nadschaf, sollte auf diese Weise geschwächt werden. Aber die CPA übersah, dass der gewaltsame Zusammenbruch des Regimes von Ex-Diktator Saddam Hussein ein riesiges politisches Vakuum hinterlassen hatte.

Dieses Vakuum wurde zum einen von zwei kurdischen Parteien gefüllt, die in ihrer halb-autonomen Enklave bereits etabliert waren. Zum anderen gab es die wohlorganisierten schiitischen Islamisten-Parteien wie den Obersten Rat für die Islamische Revolution im Irak (SCIRI) und die Dawa-Partei. Beide wurden vom Iran unterstützt. Die säkularen Bewegungen – ob links, nationalistisch oder liberal – stellten sich dagegen noch gänzlich unorganisiert dar. Die Übergangsbehörde hatte die alte Baath-Partei von Saddam Hussein, die im Gegensatz dazu sehr gut organisiert gewesen war, aufgelöst und verboten.

Die Kräfte, die das politische Vakuum füllten, waren vor allem religiös: Die Moscheen und schiitischen Gebetshäuser, die Husiania, wurden politische Zentren. Während der letzten Wahlen zeigte sich, dass die demographische Entwicklung, aber vor allem die islamischen Traditionen, den friedlichen Übergang zur Demokratie behinderten. Islamische Geistliche respektierten das Wahlrecht beispielsweise nicht als Individualrecht. Sie sahen in ihm vielmehr die Ausübung einer religiösen Pflicht als Gemeinde- oder Konfessionsmitglied und beeinflussten die Stimmabgabe der Menschen damit auf allen Seiten.

Wahlen in Kriegszeiten

Nach dem Sturz Saddam Husseins durch die Koalitionsmächte brachen sämtliche staatliche Institutionen zusammen, ohne effektiv ersetzt zu werden. Dass die Armee und die Polizei aufgelöst wurden, verstärkte die Unsicherheit. Auch soziale Dienste, etwa in den Bereichen Gesundheit, Transport und Elektrizität, funktionierten nicht mehr. In diesen unsicheren Zeiten suchten die Menschen Schutz bei ihren traditionellen ethnischen, sozialen und religiösen Gruppen. Anstatt sie zu versöhnen, brachte dies die Menschen jedoch nur weiter auseinander. Bald stärkten große politische Parteien ihre Milizen als Quellen der Macht. Gleichzeitig griffen unzufriedene Stammes-, Religions- und ethnische Gruppen zu Gewalt, um eine Stabilisierung der zentralen und lokalen Behörden zu verhindern.

Als die Wahlen im Januar 2005 stattfanden, blieb ihnen ein wesentlicher Teil der irakischen Gesellschaft fern: die sunnitischen Araber. Die meisten von ihnen rebellierten offen und boykottierten die Parlamentswahlen für die neue irakische Verfassung.

Vor kurzem erklärte die irakische Regierung, sie werde Parteien mit einer Miliz das Recht auf einen Parlamentsabgeordneten entziehen. Im Rückblick erscheint es paradox, dass diese Parteien noch im Jahr 2005 an den Wahlen teilnehmen durften. Für den Obersten Rat für die Islamische Revolution im Irak (SCIRI) mit seinen Badr-Brigaden und die beiden kurdischen Parteien mit ihren Peschmerga, war dies sicherlich von Vorteil. Die Eile bezüglich der Wahlen spielte ihnen eindeutig zu, da das neue Parlament von schiitischen Islamisten und kurdischen Blöcken dominiert wurde. Sie konnten so eine Verfassung entwerfen, die die sunnitischen Araber vollständig ablehnten.

Insgesamt wurde nicht viel gewonnen. Statt den Verfassungsprozess dafür zu nutzen, die politische Versöhnung voranzutreiben, wurde die ethnische und religiöse Polarisierung gefördert. Die irakische Politik verkam zu einem Nullsummenspiel.

Daher muss sich das Parlament heute dem Problem der Verfassungsänderung stellen – und hat die Frist zum Ende des vorigen Jahres bereits verpasst. Der Fall Irak ist deshalb so paradox: Innerhalb nur eines Jahres wurden zwei Wahlen abgehalten und eine neue Verfassung verabschiedet – dies nahm nach dem Ende der Apartheid in Südafrika oder dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland und Japan mehrere Jahre in Anspruch.

Wachsende Zweifel

Zusätzlich zur Eile bei den Wahlen und dem Verfassungsprozess, billigten die irakische Regierung und die Übergangsbehörde ein Wahlsystem, das die großen organisierten Parteien favorisierte, indem es den Irak als einen einzigen Wahlbezirk betrachtete. Die Wahl basierte auf einer proportional geschlossenen Liste. So stimmten die Wähler nicht für Personen, sondern für ethnische oder religiöse Listen. Das verstärkte das Misstrauen in der Gesellschaft.

Darüber hinaus versagte die Wahlkommission darin, Regelverstöße einzugrenzen. Einige Mitglieder wurden sogar von politischen Gruppen bedrängt, obwohl die Wahlkommission unparteiisch sein sollte. Dieselbe Kommission wurde später auf Parteibasis umorganisiert – und die Parteien der schiitischen Islamisten und Kurden erhielten eine dominante Rolle.

Regionale Hürden

Ein sehr wichtiges Thema im Kontext Irak ist die geopolitische Lage des Landes. Bei ihrem erfoglreichem Übergang zur Demokratie half den osteuropäischen Ländern die Nachbarschaft zum demokratischen Westeuropa. Der Irak kann auf solch positive Einflüsse leider nicht bauen. Er grenzt an Saudi Arabien, den Iran und Syrien. Und die haben ihre eigenen Vorstellungen davon, was gut für den Irak ist.

Auch hier waren einige unselige Gesetze schuld daran, dass die Regierungen in Teheran und anderen Nachbarländern mehr Einfluss denn je auf den Irak ausüben konnten. Im Irak existierte beispielsweise kein Parteiengesetz. Statt dessen verabschiedete der frühere Zivilverwalter der Übergangsbehörde, der US-Diplomat Paul Bremer, ein „Gesetz für politische Einheiten“, das bei der notwendigen Überwachung der Finanzierung und Zusammensetzung der Parteien versagte. Dies gab Außenstehenden die Gelegenheit, sich nach dem Sturz Saddam Husseins in die irakische Politik einzumischen. In der Praxis erhielten alle großen Wahlgewinner Geld aus dem Ausland – direkt und indirekt – und es floss hauptsächlich aus dem Iran und einigen arabischen Ländern.

Hat der Irak eine Zukunft?

Die irakische Politik befindet sich zur Zeit in einer Sackgasse. Jede Veränderung des Wahlgesetzes hängt von den dominanten ethnischen und religiösen Parteien, der Schiitenallianz und den Kurden, ab. Beiden hat das gegenwärtige Wahlsystem und Wahlgesetz Vorteile verschafft. Keine politische Kraft besitzt daher den Anreiz, radikale Veränderungen herbeizuführen. Statt dessen steigt die Gefahr der Spaltung. Wenn ethnische und religiöse Gruppen mit unterschiedlichen Territorien verbunden sind – wie im Fall der Schiiten und Kurden im Irak – entsteht eine Tendenz zum Auseinanderbrechen eines Landes. Genau dagegen kämpfen die Sunniten an – und werden dies wahrscheinlich weiter tun, bis sie ihren Anteil an der Macht erhalten. In dieser Hinsicht waren die irakischen Wahlen im Jahr 2005 ein klassisches Beispiel dafür, wie man Wahlen nicht abhalten sollte.

Aber es gibt weitere wichtige Entwicklungen. Seit 2007 werden Spaltungen innerhalb der sunnitisch-arabischen als auch schiitisch-arabischen Gruppierungen offensichtlich. Einerseits sind die Awakening-Gruppen entstanden. Sie wurden von den USA finanziert und tragen zu einer kurzfristigen Beruhigung der Gewalt bei. Auf der anderen Seite spaltete sich die Schiitenallianz in die Hakim-Partei (SCIRI) und die Sadr-Gruppe.

Unter diesen Bedingungen werden im Oktober Provinzwahlen abgehalten. Sie gelten als Meilenstein, weil sie den schiitischen und sunnitischen Gruppen offen stehen, welche die vorangegangenen Wahlen boykottierten. Es wird erwartet, dass sie viele Sitze gewinnen. Deshalb gibt es Hoffnung auf eine Wende aus der politischen Sackgasse.

Aber die Provinzwahlen werden auch ein Realitätstest für die Regierung und die Zukunft des Iraks in Bezug auf den Föderalismus sein – besonders im schiitischen Süden. Während die SCIRI eine gigantische föderale Einheit der Schiiten im Süden fordert, die insgesamt neun Provinzen umfasst, wollen die Sadristen einen Einheitsstaat ohne Kurdistan. Die jüngsten Kämpfe in Basra zeigen, dass die gegensätzlichen Ansichten nicht nur in Verhandlungen ausgetragen werden. Ein Grund mehr, warum die Aussichten für eine demokratische und friedliche Zukunft im Irak nicht sehr vielversprechend sind.

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