Editorial

Inklusion statt Armut

In den reichen Nationen gibt es immer weniger Menschen mit Behinderungen. Dies ist guten Lebensumständen, solider Gesundheitsversorgung und pränataler Diagnostik zu verdanken. Deshalb denken viele, das Thema gehe nur eine kleine Minderheit an. Dabei betrifft es direkt etwa eine Milliarde Menschen weltweit, das heißt jeden siebten Erdenbürger.
Schule für Kinder mit Behinderungen in Mwanza, Tansania. Sean Sprague/Lineair Schule für Kinder mit Behinderungen in Mwanza, Tansania.

Die meisten Menschen mit Behinderung leben allerdings in armen Ländern. Und Armut und Behinderung verstärken sich wechselseitig. Wer arm ist, ist in vielerlei Hinsicht dem Risiko ausgesetzt, mit Behinderung geboren zu werden oder später behindert zu werden: Arme können sich oft nicht ausreichend mit Nahrung und Nährstoffen versorgen, sie haben keinen angemessenen Zugang zu medizinischer Versorgung und müssen riskante Arbeiten ausführen. Sie erkranken also häufiger an schweren Krankheiten, verletzten sich oder bringen behinderte Kinder zur Welt. Auch in Kriegen kommt es zu vielen Verletzungen und lebenslangen Behinderungen. Gewaltkonflikte finden heutzutage fast ausschließlich in armen Ländern statt.

Zugleich besteht bei Menschen mit Behinderungen eine besonders große Gefahr, dass sie verarmen. Wer körperlich oder geistig eingeschränkt ist, bekommt oft keinen Arbeitsplatz, hat keinen Zugang zu öffentlichen Gebäuden und Krankenhäusern und wird gesellschaftlich isoliert.

Um den Teufelskreis von Armut und Behinderung zu durchbrechen, müssen die sichtbaren und unsichtbaren Barrieren im öffentlichen Leben und in den Köpfen der Menschen beseitigt werden. Inklusion lautet das vielgenannte Stichwort. Das bedeutet, dass jeder Mensch in seiner Individualität von der Gesellschaft akzeptiert wird und die Möglichkeiten und Rechte hat, in vollem Umfang an ihr teilzuhaben.

Das Streben nach Inklusion ist ein entwicklungspolitisches Ziel. Chancengleichheit muss auch für Menschen mit Behinderung in Schule, Ausbildung, Arbeit und Gesellschaft gelten. Das hilft auch Armut zu bekämpfen. Dies erkennt mittlerweile die Mehrheit der Staaten an. Ein multilateraler Konsens zur Inklusionspflicht ist etwa die Behindertenrechtskonvention von 2008. Aktivisten fordern, das Thema Inklusion auch in die globale Post-2015-Agenda aufzunehmen.

Auch die reichen Länder haben beim Thema Inklusion noch Nachholbedarf. Dass in Deutschland noch viele Barrieren nicht nur in den Köpfen der Menschen bestehen, zeigt die aktuelle Debatte über die Integration von behinderten Kindern an Regelschulen. Die meisten Politiker befürworten die Aufnahme behinderter Kinder in allgemeine Schulen. Doch sie stellen nicht genügend Geld für die baulichen und personellen Voraussetzungen bereit. So sehen sich viele Schulen nicht in der Lage, das Inklusionsziel umzusetzen.

Es gibt Eltern nichtbehinderter Kinder, die fürchten, dass ihr Nachwuchs in inklusiven Klassen nicht genug lernt – und dass das soziale Lernen so gefördert wird, interessiert sie kaum. Inklusion ist also auch in hoch entwickelten Ländern ein mühseliger Prozess. Das ist in armen Ländern nicht anders. Nicht selten sind dort die Barrieren noch größer als in westlichen Industrienationen. Behinderte Kinder werden oft noch als Schande und nicht als ebenbürtige Menschen angesehen. Inklusion ist weltweit eine große Herausforderung.

 

Sabine Balk ist Redakteurin von E+Z Entwicklung und Zusammenarbeit / D+C development and Cooperation.
euz.editor@fs-medien.de

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