Entwicklungspolitik

Gemeinsam Innovation ­ankurbeln

Eine gute Innovationspolitik und bessere berufliche Bildung zu schaffen ist für die lateinamerikanischen Länder essenziell – und die europäische Entwicklungspolitik könnte dabei helfen.
The lack of skilled and specialised workers is particularly evident in advanced manufacturing and high-tech industries: employee in a Nissan car factory in Guernavaca, Mexico. Michael Mogensen/Lineair Fotoarchief The lack of skilled and specialised workers is particularly evident in advanced manufacturing and high-tech industries: employee in a Nissan car factory in Guernavaca, Mexico.

Die lateinamerikanischen Länder haben in den letzten Jahrzehnten die Armut erheblich verringern können, doch davon, sie abzuschaffen, sind sie noch weit entfernt. Seit der internationalen Finanzkrise 2008/2009 sinken die Wachstumsraten und die Produktivität stagniert in den meisten Ländern. Seitdem haben sich auch die Armutsindikatoren nicht weiter verbessert, und es sind sogar einige Rückschläge zu verzeichnen gewesen. Laut CEPAL, der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik, lebten im Jahr 2014 28 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze (167 Millionen Menschen) und zwölf Prozent sogar in extremer Armut (mehr als 70 Millionen Menschen). Zudem ist Lateinamerika auch weiterhin eine der Weltregionen mit der höchsten Ungleichverteilung des Wohlstands – nur das südliche Afrika weist einen höheren Wert auf.

Eine hohe Armutsrate und große Ungleichheit erschweren Entwicklung, weshalb beide Probleme auch in der Agenda 2030 der Vereinten Nationen festgehalten wurden (Ziel 1 & 10). Um die Situation zu verbessern, ist es für die lateinamerikanischen Länder immens wichtig, wirtschaftlich wettbewerbsfähig zu bleiben.

Der lateinamerikanischen Wirtschaft stehen jedoch einige tiefgreifende Veränderungen bevor, die von zwei globalen Makro-Trends ausgehen:

  • Zum einen haben sich mehrere latein­amerikanische Staaten auf der Klimakonferenz COP21 in Paris Ziele zur Dekarbonisierung gesetzt. Um diese zu erreichen, werden sich Unternehmen massiv umstellen und Regionen nachhaltige Wirtschaftszweige aufbauen müssen.
  • Der zweite globale Trend sind die Digitalisierung und die Nutzung von intelligenten Geräten (Internet of Things – IoT) in der industriellen Produktion und im Dienstleistungssektor. Sie bedeuten für wichtige Branchen eine disruptive Veränderung. Die rasante Entwicklung birgt unbestritten Chancen für die lateinamerikanischen Länder, aber sie bedeutet auch große Herausforderungen: Um im internationalen Wettbewerb mithalten zu können, müssen sie Technologielücken schließen, Humankapital aufbauen – also Arbeitskräfte besser aus- und weiterbilden –, die IT-Infrastruktur auf den neuesten Stand bringen und regulatorische Lücken schließen.


Innovationspolitik in Lateinamerika

Im internationalen Vergleich wird sehr deutlich: Länder, die von Volkswirtschaften mittleren Einkommens zu hoch entwickelten Ländern geworden sind – abgesehen nur von jenen, die ausschließlich aufgrund ihres Rohstoffreichtums gewachsen sind – haben dies geschafft, indem sie hochentwickelte Produktionsstrukturen aufgebaut haben. Entweder haben sie in traditionellen Industrien neue Wertschöpfungsketten aufgebaut (dies trifft insbesondere auf Länder mit einem hohen Anteil an Rohstoffexporten zu wie Australien, Neuseeland, Kanada und den nordeuropäischen Ländern) oder durch die Entwicklung neuer Sektoren, für die sie gezielt Wettbewerbsvorteile aufgebaut haben (Beispiele sind Korea, Singapur und Irland). Sie haben die Wirtschaft ihrer Länder diversifiziert sowie in Wissenschaft, Forschung, Technologie und Ausbildung investiert.

Innovation ist ein unerlässlicher Motor, um solche neuen Strukturen aufzubauen. Deshalb haben in den letzten zwei Jahrzehnen immer mehr Regierungen in Lateinamerika versucht, die Innovationsleistung ihres Landes zu fördern. Beispielsweise haben sie Cluster-Programme für bestimmte Sektoren oder Regionen gestartet oder Institutionen geschaffen, die gezielt öffentlich-private Projekte anstoßen sollen.

Doch die großen sozialen Herausforderungen in ihren Ländern verhindern, dass diese Maßnahmen hohe politische Priorität und ein entsprechendes Budget bekommen. Für Politiker ist es schwer, angesichts großer sozialer Probleme Ausgaben für Wissenschaft, Technologie und Innovation zu rechtfertigen. Es ist daher dringend notwendig, die Ziele hinter diesen Maßnahmen klar darzulegen und dem Steuerzahler zu vermitteln, weshalb sie für ihn relevant sind. Auch braucht es klare Mechanismen, um die Ergebnisse zu messen und für die Bevölkerung sichtbar zu machen. Besonders innovative Gesellschaften erfüllen all diese Punkte.

Die Innovationspolitik in Lateinamerika muss es schaffen, nationale und regionale Innovationssysteme aufzubauen, die Fortschritt für die Bevölkerung bringen. Gleichzeitig muss sie Innovation in der Privatwirtschaft stimulieren, um die Produktionseffizienz zu steigern. Diese Prozesse könnte die europäische Entwicklungspolitik unterstützen.


Wie Europa helfen kann

Europa hat im Bereich Innovationsförderung einige gute Ansätze gefunden, die es über die Entwicklungszusammenarbeit auch in Lateinamerika etablieren könnte. Das EU-Regionalprogramm für Lateinamerika, das Development Cooperation Instrument (DCI), sieht für 2014 bis 2020 ein Budget von 925 Millionen Euro für Initiativen in der Region vor. Die EU sollte es nutzen, um die Innovationskraft in Lateinamerika zu stärken.

Lateinamerika ist weltweit eine der Regionen, in denen Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt am weitesten auseinanderklaffen. In einer Umfrage der Weltbank unter brasilianischen und argentinischen Unternehmen aus dem Jahr 2010 bezeichneten rund zwei Drittel der Befragten die unangemessene Ausbildung der Arbeitnehmer als schwerwiegendste Hürde für ihren Betrieb und als ein Hindernis für Innovationsfähigkeit. Gerade in hoch technologisierten Branchen steigt in Lateinamerika daher die unbefriedigte Nachfrage, etwa in der Maschinen- und Automobilindustrie in Brasilien oder Mexiko.

Hinzu kommt, dass sich die Anforderungen der Wirtschaft rasant ändern. Laut einer IDB-Studie von 2016 braucht die Hälfte der Unternehmen in Argentinien, Brasilien und Chile Arbeitnehmer mit breiteren und anderen Fähigkeiten als noch vor fünf Jahren. In Chile wird geschätzt, dass allein aufgrund fehlender Kompetenzen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien (ICT) mehr als 5000 Positionen nicht adäquat besetzt werden können. Mit der weltweit fortschreitenden Digitalisierung wird dieses Defizit wachsen und zunehmend zu einem Hindernis für die Wettbewerbsfähigkeit der Region werden.

Fachkräfte müssen heute so ausgebildet werden, dass sie auf die neuen Anforderungen vorbereitet sind. Außerdem sollten sie mit digitalen Technologien umgehen können – egal, ob sie im Bergbau, der Agrarindustrie, der Astronomie, der Logistik, dem Bau- oder Gesundheitswesen tätig sind. Europa hat dafür gute Modelle entwickelt: Die Erfahrungen beispielsweise mit der dualen Ausbildung und lebenslangem Lernen sollten stärker in die Entwicklungszusammenarbeit mit Lateinamerika einfließen (siehe Bruno Wenn über duale Ausbildung in Brasilien).

„Smart Specialisation“ ist ebenfalls wichtig. Regierungen können nicht im Voraus wissen, welche politischen Interventionen Innovation vorantreiben werden. Sie müssen Verfahren schaffen, um dies herauszufinden. Dafür sollten die zuständigen Institutionen starke Partnerschaften mit Unternehmen, Hochschulen, Förderinstitutionen, Arbeitnehmern und Zivilgesellschaft aufbauen. Die „Smart Specialisation Strategy“ der Europäischen Kommission ist ein gutes Beispiel dafür: Sie soll in einzelnen Regionen Innovationen identifizieren, die die lokale Produktion stärken. Sie bringt die wichtigsten Akteure zusammen und macht die technischen Voraussetzungen aus, die nötig sind, um Wettbewerbsvorteile zu stärken. Ein solcher Ansatz sollte auch in die europäische Zusammenarbeit mit Lateinamerika im Bereich Innovationspolitik einfließen.


Claudio Maggi C. ist Industrie- und Wirtschaftsingenieur und Leiter der Wettbewerbsabteilung der Productivity, Innovation and Growth Agenda of Chile (Agencia Gubernamental para el Desarrollo Productivo de Chile, CORFO).
claudio.e.maggi@gmail.com


Literatur

Bassi, M., Rucci, G. und Urzúa, S., 2014: Más allá del aula: formación para la producción. In Crespi, G., Fernandez-Arias, E., y Stein, E. (Hg.): ¿Cómo repensar el desarrollo productivo? políticas e instituciones sólidas para la transformación económica. Washington DC, Interamerikanische Entwicklungsbank.

CEPAL, 2016: Ciencia, tecnología e innovación en la economía digital. La situación de América Latina y el Caribe. Segunda Reunión de la Conferencia de Ciencia, Innovación y TIC, San José de Costa Rica.
 

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