Ernährung

Auch Jungen sind unterernährt

Studien zufolge leiden Mädchen und Frauen besonders unter Hunger und Unterernährung. Doch um SDG2 „Kein Hunger“ zu erreichen, muss auch an Jungen und Männer gedacht werden.
Messung des Armumfangs eines schwer unter­ernährten Babys in Somalia. picture-alliance/dpa/Eva-Maria Krafczyk Messung des Armumfangs eines schwer unter­ernährten Babys in Somalia.

„Kein Hunger“ lautet das zweite UN-Ziel für nachhaltige Entwicklung. Hunger soll beendet, Ernährungssicherheit und eine bessere Ernährung sollen erreicht werden. Die Ernährungsforschung hebt oft genderspezifische Aspekte hervor. Die Nichtregierungsorganisation Misereor formulierte 2022: „Frauen (sind) global in besonderer Weise von Hunger betroffen“, bei Brot für die Welt hieß es 2015: „Mangelernährung ist weiblich.“ Laut World Food Program USA sind fast 60 Prozent der 345 Millionen Menschen, die weltweit hungern, Frauen und Mädchen. Auch die UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO – UN Food and Agriculture Organization) berichtete kürzlich, dass die weltweite Rate der Ernährungsunsicherheit bei Frauen höher ist als bei Männern (FAO et al., 2022).

Natürlich sollen kein Mädchen und keine Frau unterernährt sein. Zugleich dürfen auch Jungen und Männer nicht in Vergessenheit geraten – aus mehreren Gründen: Erstens ist es nicht ganz einfach, Unterernährung und geschlechtsspezifische Aspekte zusammenzubringen. Häufig stammen die Daten von Kindern unter fünf Jahren und Frauen im gebärfähigen Alter, während der Ernährungszustand von Jungen und Männern in Ländern mit unsicherer Ernährungslage oft nicht erfasst ist.

Zweitens zeigen die Daten, dass es Männern keineswegs überall auf der Welt besser geht als Frauen. Hier gilt es, stärker zu differenzieren. So waren dem oben zitierten FAO-Bericht zufolge Jungen unter fünf Jahren in den meisten Regionen stärker von Wachstumsverzögerungen durch chronische Unterernährung betroffen als Mädchen. Aus der Perinatalmedizin und der Kinderheilkunde ist bekannt, dass die Kindersterblichkeit – der Anteil der Kinder, die sterben, bevor sie fünf Jahre alt sind – bei Jungen fast überall deutlich höher liegt als bei Mädchen.

Magere Jungen

Der Global Nutrition Report (GNR) ist eine Multi-Stakeholder-Initiative, unter anderem von Regierungen, zivilgesellschaftlichen Organisationen und Ernährungsexperten. Dem GNR 2021 zufolge waren 2019 weltweit 10,9 Prozent der Jungen zwischen fünf und neun Jahren zu dünn – gegenüber 8,9 Prozent der gleichaltrigen Mädchen. Bei der Altersgruppe zwischen 10 und 19 Jahren waren es 12,3 Prozent, gegenüber 7,9 Prozent bei den Mädchen beziehungsweise jungen Frauen. Laut dem Bericht ist die weltweite Prävalenz von Magerkeit bei männlichen und weiblichen Kindern und Jugendlichen seit 2010 leicht zurückgegangen.

In einigen Ländern gab es dem GNR von 2020 zufolge größere Unterschiede bei der Unterernährung zwischen Jungen und Mädchen. Lesotho wies den größten Unterschied im Kindes- und Jugendalter auf (Jungen 32,5 Prozent, Mädchen 14,1 Prozent), gefolgt von Simbabwe (32,5 gegenüber 15,0 Prozent) und der DR Kongo (37,8 gegenüber 21,9 Prozent).

Mein Team an der Justus-Liebig-Universität Gießen erhob 2004 Daten für die deutsche NGO Welthungerhilfe. Unsere Erhebung bestätigte die Beobachtung, dass Frauen und Mädchen nicht generell häufiger unterernährt sind als Männer und Jungen. Bei einer Basiserhebung zur Ernährung im Distrikt Vavuniya in Sri Lanka waren Frauen und Männer gleichermaßen unterernährt.

Eine frühere Studie befasste sich mit der Prävalenz von Unterernährung im Süden Madagaskars in den Jahren 1999 und 2000. In urbanen Gebieten betraf Ernährungsunsicherheit im Jahr 2000 beide Geschlechter, aber es waren etwa 10 Prozent mehr Männer als Frauen unterernährt.

Dieser Artikel soll keineswegs von Unterernährung bei Mädchen und Frauen ablenken. Er will darauf hinweisen: Auch Jungen und Männer sind unterernährt, mancherorts sogar stärker als Mädchen und Frauen. Auch sie verdienen Beachtung. Maßnahmen gegen Unterernährung müssen angepasst geschlechtsspezifisch sein, denn das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern kann je nach Region und Altersgruppe variieren.

Literatur

Global Nutrition Report 2021:
https://globalnutritionreport.org/reports/2021-global-nutrition-report/

Global Nutrition Report 2020:
https://globalnutritionreport.org/reports/2020-global-nutrition-report/

FAO et al., 2022: The state of food security and nutrition in the world 2022.
https://www.fao.org/documents/card/en/c/cc0639en

Michael B. Krawinkel ist Mediziner und emeritierter Professor für die Ernährung des Menschen der Justus-Liebig-Universität Gießen. Sein Fokus liegt auf Ernährung in Entwicklungsländern.
michael.krawinkel@uni-giessen.de

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