Westbengalen

Vorschulerziehung in zwei Adivasi-Dörfern in Indien

In Vorschulen beginnt die formale Ausbildung für Kinder. Sie sollen die Basis legen für lebenslanges Streben nach Bildung. Eine gute Vorschulerziehung wirkt sich zudem auf spätere Leistungen aus und beugt Schulabbrüchen vor. Marginalisierte Gemeinschaften profitieren besonders von guten Vorschuleinrichtungen, wie das Beispiel zweier Adivasi-Dörfer in Westbengalen zeigt.
Nahrhafte Mahlzeiten anzubieten ist nach wie vor eine wichtige Aufgabe der Vorschulen in Ghosaldanga und Bishnubati. Boro Baski Nahrhafte Mahlzeiten anzubieten ist nach wie vor eine wichtige Aufgabe der Vorschulen in Ghosaldanga und Bishnubati.

In den 1980er-Jahren verließen die meisten Kinder aus unserem Dorf Bishnubati die Schule vorzeitig. Meine Gemeinschaft gehört zum Stamm der Santal, und wir zählen zu den Adivasi, den Ureinwohner*innen Indiens. Wir sprechen unsere eigene Sprache und standen schon immer am Rand der Gesellschaft.

Früher hatten wir keine Schulen. Unsere Kinder mussten Grundschulen in kilometerweit entfernten hinduistischen oder muslimischen Dörfern besuchen. Die Lehrkräfte waren keine Santal und sprachen unsere Sprache nicht. Das in unserer Region überwiegend gesprochene Bengali ist für unsere Kinder eine Fremdsprache.

Die Lehrkräfte und nichtsantalischen Schüler*innen behandelten uns oft herablassend. Die Unterrichtsmethoden waren hart, inklusive körperlicher Züchtigung. Dieses Lernumfeld führte dazu, dass Santal-Kinder die Grundschule meist abbrachen, was unsere Gemeinschaft weiter benachteiligte.

Bessere Aussichten 

Auch heute noch ist die Lage für Kinder aus Bishnubati und dem benachbarten Santal-Dorf Ghosaldanga schwierig, aber nicht mehr ganz so düster. Wir haben es geschafft, unsere eigenen Bildungseinrichtungen aufzubauen. Unsere lokale Organisation Ghosaldanga Adibasi Seva Sangha (GASS) betreibt zwei Vorschulen und eine Grundschule, wo nun alle Dorfkinder lesen und schreiben lernen.

Hauptsprache ist dort Santali, aber die Kinder lernen nach und nach auch Bengali, weil sie es später brauchen werden. Anfangs unterstützte uns die große hinduistische Wohltätigkeitsorganisation Ramakrishna Mission. Jetzt sind wir angewiesen auf Privatspenden (auch aus dem Ausland) und kleine Mitgliedsbeiträge der Familien. Sehr arme Familien zahlen in Naturalien.

Das Projekt begann Mitte der 1980er-Jahre mit Sona Murmu aus Ghosaldanga und Martin Kämpchen, einem deutschen Wissenschaftler (und E+Z/D+C-Autor), der damals an der Visva-Bharati-Universität promovierte. Sie betreuten Schulabbrecher*innen, um sie wieder an die Grundschule zu bringen. Sona besuchte damals als einziger Junge aus seinem Dorf eine weiterführende Schule. Später gründete er mit mir und anderen GASS.

Beim Unterrichten fiel Sona auf, wie frei die Santal traditionell miteinander umgehen und soziale Kontakte pflegen. Wir halten uns an viele der strengen Regeln der staatlichen Schulen nicht. Das erschwerte allerdings unseren Kindern den schulischen Alltag, und die Sprachbarriere kam noch hinzu. Wir erkannten, dass es gut wäre, die Kinder schon vor der Einschulung zu unterrichten.

Die Eltern überzeugen

Mit Hilfe der Ramakrishna Mission baute die GASS Kindergärten für Drei- bis Sechsjährige: zunächst 1989 in Ghosaldanga, zwei Jahre später dann auch in Bishnubati. Santal-Frauen unterrichteten die Kinder in ihrer Muttersprache. Sie gingen von Haus zu Haus, um die Eltern davon zu überzeugen, ihre Söhne und Töchter einschulen zu lassen.

Unterernährung war zu dieser Zeit ein großes Thema, vor allem bei Müttern und Kindern. So wurde es zu einer der Hauptaufgaben der Kindergärten, Kinder und Schwangere mit nahrhaftem Essen zu versorgen. Es gab Khichuri (eine Mischung aus Reis, Hülsenfrüchten und Kartoffeln), grünes Gemüse wie Bohnen, Obst (etwa Papaya) und für jeden täglich ein gekochtes Ei.

Neben der Ernährung lag ein Fokus auf der Entwicklung der kognitiven und körperlichen Fähigkeiten der Kinder. Die Kinder lernten über Lieder, Tänze und Musik das Konzept von Buchstaben und Zahlen, und sie durften auch viel spielen. Wir nutzten das bengalische Alphabet für unsere Sprache, um es ihnen nicht zu schwer zu machen.

Wir merkten, wie wichtig es ist, die Eltern zu beteiligen. Daher hielt GASS wöchentlich Treffen ab und organisierte regelmäßige Gesundheitsuntersuchungen, unterstützt von freiwilligen Ärzt*innen aus Westbengalen und Deutschland. Die gesundheitliche Lage war damals desolat. Einer Studie zufolge hatten Ende der 1980er-Jahre in den 48 Familien in Ghosaldanga etwa 40 Personen Tuberkulose.

Bei den Treffen überlegten Eltern und Betreuende, wie sie die Schule verbessern könnten. Dabei ging es regelmäßig um Gesundheit und Hygiene, aber auch um Alkoholismus und Aberglaube und was man dagegen tun könnte. All das gehörte zur ganzheitlichen Betrachtung der Situation der Kinder. Nach den Treffen erhielten alle Familien Seife und Eisentabletten.

Auf Anregung der Familien legten wir einen Gemüsegarten an und begannen Bäume zu pflanzen. Im Sommer, wenn es auf dem Feld weniger zu tun gab, sammelten die Dorfbewohner*innen die Samen verschiedener Bäume aus den umliegenden Wäldern. Sie zogen Setzlinge daraus und pflanzten Hunderte von Bäumen entlang der Straßen zu den Dörfern und auf wenig fruchtbarem Land. Alle in den Familien beteiligten sich an dieser kleinen Aufforstungsaktion. Das stärkte das Gemeinschafts- und Verantwortungsgefühl für unsere Kindergärten.

Die Pflanzungen haben sich als sehr wertvoll erwiesen. Früher mussten unsere Frauen kilometerweit für Feuerholz laufen. Jetzt sammeln sie Laub und Äste von den Bäumen in der Nähe.

Nach der Jahrtausendwende wurden staatliche Einrichtungen gebaut, die die Aufgaben unseres Vorschulprogramms übernehmen sollten. Aber auch hier sprachen die Lehrkräfte unsere Sprache nicht und verstanden nicht, was unsere Kinder brauchen. Die Lösung war, unsere Einrichtungen mit den staatlichen Schulen zusammenzulegen.

Eine eigene Grundschule

Wir stellten fest, dass Kinder, die unseren Kindergarten besucht hatten, in der Grundschule besser zurechtkamen und leichter zu unterrichten waren. Zudem wollten wir eine eigene Schule gründen. Auch das schafften wir – dank einer großzügigen Spende des deutschen Forschers Rolf Schoembs. Die GASS kaufte Land und gründete eine vollwertige Grundschule namens Rolf-Schoembs-Vidyashram. Auf dem Lehrplan stehen unter anderem Santali-Lieder, Musik, Stammesgeschichte und Folklore.

Wir sorgen dafür, dass die Kinder lernen, was sie brauchen, und dass sie lesen, schreiben und rechnen können. Aber wir folgen keinem starren Lehrplan. Unsere Lehrkräfte können improvisieren, neue Themen einführen oder Ausflüge machen, je nach den Interessen der Kinder. Die Unterrichtsmethode ist spielerisch, aber doch ernsthaft und effektiv. Die Schule profitiert auch von einem kleinen Santal-Museum, das die GASS eingerichtet hat. 

Wir arbeiten nun seit mehr als drei Jahrzehnten mit Adivasi-Kindern in der Vorschulerziehung und wissen, wie wir sie gut unterrichten können. Wir freuen uns, dass auch einige Kinder aus anderen Santal-Dörfern zu uns in die Schule kommen. Zugleich sind wir uns völlig im Klaren darüber, dass die meisten Adivasi-Kinder in Indien nicht die Chance haben, systematisch und frühzeitig in ihrer eigenen Sprache unterrichtet zu werden.

Boro Baski arbeitet für die lokale Organisation Ghosaldanga Adibasi Seva Sangha in Westbengalen. Die NGO wird vom deutschen Freundeskreis Ghosaldanga und Bishnubati unterstützt. Er hat als Erster aus seinem Dorf eine Hochschule besucht und ist der Erste mit einem Doktortitel (in sozialer Arbeit).
borobaski@gmail.com

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