Minderheiten

Alphabete spalten ethnische Gemeinschaft

Santali gehört zu Indiens vielen Adivasi-Sprachen. Um sie zu schreiben, werden sieben verschiedene Alphabete verwendet. Diese Vielfalt schadet der betroffenen ethnischen Gemeinschaft.
Bengalische Buchstaben im Santali-Unterricht. Boro Baski Bengalische Buchstaben im Santali-Unterricht.

Schrift ist für Entwicklung und Fortbestehen einer Sprache wichtig. Langfristig erfordert geschriebene Kommunikation eine klar definierte Grammatik, präzise Wortbedeutungen und einheitliche Orthographie. Sonst fällt das Lesen sehr schwer. Die nötigen Regeln entstehen, wenn ein Literaturkanon heranwächst – welcher dann seinerseits Werte und Normen der Menschen prägt, um deren Muttersprache es geht. Schrift ist deshalb identitätsrelevant. All das gilt umso mehr, wenn die Sprache im Bildungssystem verwendet wird.

Uns Santals spaltet jedoch die Frage, welches Alphabet wir verwenden sollen. Es gibt zu viele Optionen. Wir sind die größte homogene Gruppe unter Südasiens vielen Adivasi-Völkern. Zu unseren Stämmen gehören mehr als 10 Millionen Menschen in östlichen Bundesstaaten Indiens sowie in Bangladesch und Nepal. Wir sind nicht Teil des hinduistischen Kastensystems und wurden historisch ausgegrenzt.

Unsere Sprache Santali hat sich jahrtausendelang in mündlicher Tradition entwickelt. Sie gehört zur austroasiatischen Familie und ist mit Vietnamesisch und Khmer verwandt, aber nicht mit den indoeuropäischen Sprachen unserer Weltregion.

Am Ende des 19. Jahrhunderts fanden es christliche Missionare nützlich, auf Santali zu schreiben. Sie verwendeten das lateinische Alphabet. Sie dokumentierten unsere Märchen, aber auch unsere traditionelle Medizin, wobei sie Grammatikregeln festlegten und Wörterbücher verfassten. Sie schrieben auch die erste Fibeln, um Santal-Kinder zu unterrichten.


Das siebte Alphabet

Bildung erreichte aber auch zunehmend Santals, die keine Missionsschulen besuchten. Typischerweise nutzten sie die Schrift der in ihrer Gegend überwiegend verwendeten Regionalsprache. Wo Bengali gesprochen wird, nutzten Santals das bengalische Alphabet. Wo Hindi oder Nepali dominieren, war Devanagari, eine ähnliche Schrift, die erste Wahl. Im Oriya-Sprachraum wurde die dort übliche, komplett andere Schrift genommen.

Leider entwickelte sich deshalb Santali-Literatur mit sechs verschiedenen Schriften. Die Alphabete wurden teils modifiziert, um die Phoneme unserer Sprache besser wiederzugeben, aber wirklich passen tut keine. Schlimmer ist aber, dass die sechs verschiedenen Schreibweisen unserer Volksgruppe die Kommunikation zwischen den Regionen erschweren. Für unser Gemeinschafts- und Selbstwertgefühl sind sie nicht hilfreich.

Andererseits ist es für eine Minderheit durchaus sinnvoll, das örtlich übliche Alphabet zu nutzen. In Westbengalen besuchen die meisten Santal-Kinder staatliche Schulen, in denen auf Bengali unterrichtet wird. In den angrenzenden Bundesstaaten sind andere Sprachen gebräuchlich. Derweil werden die lateinischen Buchstaben weiter verwendet. Tatsächlich erscheinen manche der von den Missionaren verfassten Bücher in immer neuen Auflagen, denn sie sind sehr nützlich.

In den vergangenen 20 Jahren ist alles noch komplizierter geworden, weil staatliche Stellen nun eine siebte Schrift unterstützen. Sie heißt Ol-chiki und wurde entwickelt, um die Aussprache von Santali gut wiederzugeben. Seit der Jahrtausendwende betrachten Behörden dieses Alphabet zunehmend als die einzig akzeptable Schrift für unsere Sprache (siehe Kasten).

Viele Santals finden das gut, aber leider überzeugen die Ergebnisse bislang nicht sonderlich. Pikanterweise schicken viele gebildete Santal-Eltern, die vehement für das eigene Alphabet eintreten, ihre Kinder auf Schulen, in denen der Unterricht auf Englisch, Bengali oder auch Hindi stattfindet. Sie wissen, dass ihre Töchter und Söhne dann im Leben bessere Chancen haben.


Unsere Wahl

Die Graswurzel-Organisation, für die ich arbeite, betreibt eine Dorfschule für Santal-Kinder. Wir haben uns für das bengalische Alphabet entschieden, weil uns klar ist, dass unser Nachwuchs es auf jeden Fall erlernen muss, wir kleine Kinder aber nicht damit belasten wollen, zwei Schriftsysteme zu erlernen.

Wir verwenden deshalb von Schulbeginn an für Santali-Wörter bengalische Buchstaben und Zahlen. Wenn die Kinder mit einfachen Texten gut zurechtkommen, beginnen wir ihnen Bengali – und später dann auch Englisch – beizubringen. Wir achten aber darauf, dass sie Stolz auf unsere Kultur entwickeln, indem wir ihnen unsere traditionellen Lieder und Tänze beibringen. Wir besuchen mit ihnen auch regelmäßig ein Museum der Santal-Kultur mit mehr als 100 Artefakten in einem unserer Dörfer (siehe meinen Beitrag in der Rubrik Tribüne des E+Z/D+C e-Papers 2016/06).

Im Unterricht behandeln wir zudem Dinge, die im Dorfleben wichtig sind – wie etwa Ökolandwirtschaft, Fischzucht, Gemüseanbau, Imkerei oder Kräuterheilkunde. Die Geschichte unseres Volkes steht selbstverständlich auch auf dem Lehrplan. Wir wollen, dass die junge Generation in unserer Kultur fest verwurzelt ist. Gleichzeitig wollen wir sie befähigen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Unsere Sprache ist dafür unverzichtbar, aber welche Schrift wir verwenden, ist zweitrangig. Wir informieren unsere Jugend über Ol-chiki – und ermutigen sie dazu, die Schrift zu erlernen. Wir zwingen aber niemanden dazu.


Boro Baski arbeitet für die Graswurzel-Organisation Ghosaldanga Adibasi Seva Sangha in Westbengalen. Sie wird vom deutschen Freundeskreis Ghosaldanga und Bishnubati unterstützt. Boro Baski hat als Erster aus seinem Dorf eine Hochschule abgeschlossen und ist auch der Erste mit einem Doktortitel (Sozialarbeit).
borobaski@gmail.com

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