Sprachen

Menschen in ihrer Muttersprache verstehen

Der Schriftsteller Martin Kämpchen lebt in Shantiniketan, einer kleinen Universitätsstadt in Westbengalen. Seit er in den 1980er- Jahren dort die Landessprache Bengalisch erlernte, sieht er Indien mit anderen Augen.
Unterricht für Santalkinder in ihrer Muttersprache mit bengalischen Buchstaben. Boro Baski Unterricht für Santalkinder in ihrer Muttersprache mit bengalischen Buchstaben.

Es dauerte lange, zu lange, bis ich mich entschloss, Bengalisch zu lernen. Nach meinem Studium kam ich als Deutschlehrer nach Kalkutta und dachte, dass ich ein oder zwei Jahre bleibe, bevor ich nach Europa zurückkehren würde. Es kam anders. Drei Jahre unterrichtete ich und entschied dann, ein neues Studium in Chennai (Südindien) zu beginnen. Wieder drei Jahre! Als ich danach mein Studium weiter ausdehnen, eine Forschungsarbeit mit einem Doktorat abschließen wollte, wurde mir deutlich: Jetzt muss ich eine indische Sprache lernen.

Ich wohnte wieder in West-Bengalen, jedoch nicht in Kalkutta, sondern in der kleinen Universitätsstadt Santiniketan, in der der indische Nationaldichter Rabindranath Tagore gelebt hatte. Einen Kurs „Bengalisch für Nichtbengalen“ gab es damals nicht. Also nahm ich einen Privatlehrer.

Besondere Herausforderung

Ich hatte Englisch und Französisch gelernt und bewegte mich in beiden Sprachen nach Aufenthalten in Wisconsin und Paris recht sicher. Doch wurde mir bewusst, dass eine orientalische Sprache zu lernen, selbst innerhalb ihrer eigenen Region, eine besondere Herausforderung war.

Das Bengalische besitzt eine eigene Schrift, die dem Devanagari (in dem Sanskrit und Hindi geschrieben werden) verwandt ist. Diese Schrift bildet manche Vokale dort im Wort ab, wo sie gesprochen werden. Andere stehen aber vor den Konsonanten, hinter denen sie erklingen, und einen Vokal zeigt die Schrift nur am Wortanfang und ansonsten nicht.

Die Syntax unterscheidet sich von der europäischer Sprachen. Verben stehen am Ende der Sätze, und statt Präpositionen werden Postpositionen an Substantive angehängt. Die Sprache unterscheidet nicht nach Geschlecht, wendet aber Höflichkeitsformen, die dem deutschen „Sie“ entsprechen, auch auf abwesende Personen an. Oft wird die Bedeutung eines Wortes nur durch die Stellung im Satz klar. Ich musste also lernen, die Welt mit bislang fremden sprachlichen Differenzierungen zu verstehen, dabei aber zugleich auf vertraute Kategorien zu verzichten.

Überforderter Lehrer

Mein Bengalischlehrer war ein junger Mann mit einem Magisterabschluss in Philosophie, aber ohne Ausbildung als Sprachlehrer. Er dachte wohl: Ich bin Bengale, also kann ich Bengalisch unterrichten. Er beherrschte Grammatik und Syntax intuitiv, wie Menschen das in ihrer Muttersprache generell tun, konnte die Regeln aber nicht erklären.

Mein Lehrer versuchte mich wie einen Sechsjährigen, der in der Schule schreiben lernt, zu unterrichten. Seine pädagogische Ahnungslosigkeit, gepaart mit großem Stolz auf die eigene Sprache, machten mir das Lernen schwer. Obendrein hatte ich die 30 schon überschritten, war also nicht mehr in dem Alter, in dem der Spracherwerb leicht fällt. Hätte ich doch zehn Jahre früher angefangen! Oft war ich entmutigt.

Es gab damals keine Lehrbücher für Menschen wie mich. Mittlerweile gibt es einige Werke, von denen „Complete Bengali“ mit begleitendem Audio-Angebot von William Radice am besten ist. Radice ist Bengalischdozent an der Londoner School of Oriental and Asian Studies und hat sich als Übersetzer einen Namen gemacht.

Eine neue Welt tut sich auf

Sprechen lernte ich schneller als Lesen und Schreiben. Nach wenigen Monaten merkte ich, dass ich mit einfachen Menschen erste, schlichte Kommunikation betreiben konnte. Welch eine Welt tat sich da auf! Mir wurde deutlich bewusst, welche Bedeutung die Muttersprache für Menschen hat – und zwar gerade für jene, die sonst keine Sprachen sprechen und vielleicht auch weder lesen noch schreiben können.

Umgekehrt bleibt unser Wissen über jene, mit denen wir nicht in ihrer Sprache kommunizieren können, recht kümmerlich. Die Muttersprache ist wie eine zweite Haut, oder die Aura der Menschen. Sie zeigt sich erst, wenn wir sprechen, zuhören und antworten.

Westbengalen erschloss sich mir neu, als ich die Gespräche um mich zu verstehen begann. Meine Sympathie für die Armen, Einfachen, schulisch Ungebildeten, Untergebenen und körperlich Arbeitenden bekam kräftigere Farben. Sie reden viel und tauschen sich ständig mit anderen aus. Das Mitteilungsbedürfnis ist groß. Als ich genügend Bengalisch verstand, gliederte sich diese anonyme Menschheit. Nach sechs Jahren Wartezeit lernte ich Indien kennen.

Indien ist in den Dörfern

Mahatma Gandhi hatte gesagt, Indien sei in den Dörfern, also bei den einfachen Menschen. Jetzt spürte ich die Wahrheit dieses Satzes.

Wer mit Menschen aus benachteiligten Schichten arbeiten will, muss ihre Sprache verstehen. Das schafft einerseits Vertrauen, vertieft die Kommunikation und ermöglicht wechselseitiges Verständnis. Wer auf Übersetzungen angewiesen ist, kann dagegen das Gegenüber nicht als „ganzen Menschen“ wahrnehmen, denn nuancierte Äußerungen von Freude, Trauer, Hoffnung und Enttäuschung gehen leicht verloren. Wie nah wir an Menschen herankommen, wenn wir ihre Muttersprache sprechen, wissen wir erst, wenn wir es einmal erfahren haben.

Wer ohne diese Kenntnisse Entwicklungszusammenarbeit betreibt, kann die Zielgruppe nicht direkt erreichen und wird auch die sozioökonomischen Machtverhältnisse nie wirklich verstehen. Das macht dauerhaften Erfolg unwahrscheinlich.

Indien hat 22 offizielle Sprachen. Sie werden vom Staat gefördert, in Schulen unterrichtet, und ihre Literatur wird von der staatlichen Literaturakademie (Sahitya Akademi) unterstützt. Die Muttersprache regiert in den Familien, in den Nachbarschaften, in den Dörfern. Seit ich in Indien lebe, wogt die Diskussion darüber, welchen Stellenwert sie im Bildungssystem einnehmen müsse. Die Einsicht, dass Kinder zunächst in ihrer Muttersprache lernen sollten, hat sich nur langsam durchgesetzt.

Ich unterstütze als Mentor und mit aus Deutschland mobilisierten Spenden die Entwicklungsprojekte eines Selbsthilfeprojekts von zwei Adivasi-Organisationen. Die von ihnen betriebene Grundschule unterrichtet auf Santali, der Muttersprache dieser marginalisierten ethnischen Gruppe. Für Santali-Texte sind in Indien verschiedene Schriften gebräuchlich, in unserer Dorfschule wird das bengalische Alphabet verwendet, weil die Kinder diese Sprache und die dazugehörigen Buchstaben ohnehin lernen müssen.

Dass Adivasi-Kinder in ihrer eigenen Sprache unterrichtet werden, bleibt leider weiterhin die Ausnahme. Andererseits gibt es in den Städten einen starken Trend zu englischsprachigen Privatschulen, sodass auch dort viele Kinder in einer für sie fremden Sprache unterrichtet werden (siehe Box).


Bücher

Kämpchen, M., 2022: Mein Leben in Indien. Ostfildern: Patmos Verlag.

Kämpchen, M., 2020: Indo-German Exchanges in Education. Rabindranath Tagore Meets Paul and Edith Geheeb. New Delhi: Oxford University Press.

Radice, W., 2010: Complete Bengali. London: Teach Yourself Verlag.

Tagore, R., 2015: An den Ufern der Stille. Lyrik. Aus dem Bengalischen übersetzt von Martin Kämpchen, Ostfildern: Patmos.


Martin Kämpchen lebt als Schriftsteller und Literaturübersetzer in Shantikniketan in Westbengalen. In seiner kürzlich erschienenen Autobiographie beschreibt er unter anderen seine jahrzehntelange Zusammenarbeit mit zwei Adivasi-Organisationen, die auch der deutsche Verein Freundeskreis Ghosaldanga und Bishnubati unterstützt.
martin.kaempchen2013@gmail.com
https://www.dorfentwicklung-indien.de/home/

 

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