Humanitärer Notstand

Krise in Äthiopien spitzt sich zu

Der Konflikt im Norden Äthiopiens schaukelt sich in einer Spirale aus Misstrauen und Gewalt weiter hoch. Die Unruhen erfassen weitere Landes- und Bevölkerungsteile. Interventionen externer Akteure haben die Situation bisher nur weiter verschärft.
In Äthiopien droht eine Hungersnot – die UN und andere Organisationen werden bei der Hilfe behindert. picture-alliance/ASSOCIATED PRESS In Äthiopien droht eine Hungersnot – die UN und andere Organisationen werden bei der Hilfe behindert.

Begonnen hatte der Konflikt im November 2020 mit bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der äthiopischen Zentralregierung und der Regionalregierung von Tigray (siehe meinen Beitrag im E+Z/D+C e-Paper 2021/01, Debatte). Damals gab es bereits eine Versorgungskrise mit Lebensmitteln, ausgelöst durch eine Heuschreckenplage im Vorjahr. Hinzu kam die bis heute nicht abebbende Corona-Pandemie.

Konfliktparteien sind auf der einen Seite die Streitkräfte der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) und auf der anderen Seite die äthiopischen Streitkräfte (ENDF), die eritreische Armee (EDF) sowie Milizen aus den Nachbarregionen. Neben den militärischen Auseinandersetzungen tobt zunehmend eine Propagandaschlacht um das Narrativ, wer im Konflikt welche Rolle spielt und wer welche Gräueltaten und Massaker zu verantworten hat. Humanitäre Hilfe ist mehr und mehr zum Politikum und die Zivilbevölkerung zum Faustpfand im Kampf um die Gunst der Weltöffentlichkeit geworden. Die Zentralregierung prangert eine einseitige Berichterstattung des Westens an und verwehrt sich gegen jede Einmischung von außen. Die diplomatischen Beziehungen zu wichtigen Verbündeten und Nachbarländern befinden sich auf einem Tiefpunkt. Experten, Politiker und Journalisten verstärken die Grabenkämpfe meist noch. Es droht eine zunehmende Isolation Äthiopiens.

Die scharfe Auseinandersetzung über die Glaubwürdigkeit des Gegners ist dabei kein Nebenprodukt des Krieges, sondern der eigentliche Ausgangspunkt. Große Teile der Bevölkerung vermuten alte Kader hinter den politischen Unruhen. Bis Premierminister Abiy Ahmed 2018 ins Amt kam, hatte die TPLF Äthiopiens Politik jahrelang durch Gewalt, Zensur und Repressionen dominiert. Aufgrund der jahrzehntelangen Menschenrechtsverletzungen ist die ehemalige Regierung in weiten Teilen des Landes verhasst.

Abiy und seine Anhänger sehen es als Folge der Teile-und-herrsche-Strategie der TPLF, die den ethnischen Föderalismus sogar in den Verfassungsstatus hob, dass die Gewalt derzeit entlang ethnischer Linien verläuft. Sie versuchen, die politischen Spannungen durch Zentralismus zu überwinden und sind der Meinung, dass dies mit einer TPLF, die separatistische Tendenzen weiter anheizt, nicht möglich ist. In Tigray selbst haben vor allem die jüngsten Ereignisse und die Furcht vor allgemeiner ethnischer Gewalt dazu geführt, dass sich die Reihen hinter der TPLF geschlossen haben.

Im Endeffekt handelt es sich um einen Machtkampf zwischen Politikern, die sich in der Tradition von Guerillakämpfern sehen und die alle Mittel zur Diskreditierung des Gegners nutzen: Die TPLF stellt seit Beginn des Konfliktes die Hungersnot als beabsichtigt und Teil eines versuchten Genozids durch die äthiopische Zentralregierung dar. Die Regierung Abiy Ahmed macht wiederum die TPLF für die Lage, die Gewalt und die Blockade der Zugangswege verantwortlich – ohne einzugestehen, dass eine Vielzahl von Akteuren zunehmend unkontrolliert agiert.

Das Vertrauen, dass das Gegenüber mit offenen Karten spielt, ist völlig verloren. Jede Meldung über Massaker, Folter, Massenvergewaltigungen und weitere Verbrechen gegen die Menschenrechte der einen Seite wird von der anderen durchwegs als Propaganda diffamiert. Wer die Taten verurteilt, macht sich automatisch zum Sprachrohr des Gegners und bestätigt die Verschwörung gegen das eigene Lager.

Regierungsbefürworter sehen Hilfsaktionen für Tigray oder Camps für äthiopische Flüchtlinge als Vorwand, die TPLF zu unterstützen. Nachdem es von Anfang an Behinderungen und Übergriffe auf Hilfskonvois gab, ermordeten im Juni Unbekannte drei Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen und im August entzog die Zentralregierung mehreren NGOs wegen Vorwürfen der Falschinformation die Lizenz. Die UN sprachen daraufhin von einer Pauschalverurteilung humanitärer Organisationen.

Es besteht nun das Dilemma, dass humanitäre Hilfe dringend benötigt wird, jede Einmischung von außen aber die Notlage potenziell verschärft. Die internationale Gemeinschaft muss schnell Alternativen zum bisherigen Vorgehen finden, um die Bevölkerung vor noch mehr Leid zu schützen.


Markus Rudolf ist Senior Researcher am Internationalen Konversionszentrum Bonn (Bonn International Center for Conversion – BICC).
markus.rudolf@bicc.de

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