Einkommensungleichheit
Warum Afrika keine stabile Mittelschicht hat
Seit Jahrhunderten schon gilt die Mittelschicht als Pfeiler politischer Stabilität. Menschen, die „weder arm noch reich“ sind, befolgen zumeist gesellschaftliche Regeln und Gesetze, trachten nicht nach fremdem Eigentum und ziehen Staatsführer aus ihren eigenen Reihen heran. Ökonomen sehen eine wachsende Mittelschicht daher als Indikator für sozialen Fortschritt, dynamische Marktwirtschaft und Strukturwandel.
Allerdings sind Definition und Berechnung der Mittelschicht problematisch. In Afrika wird dies durch schlechte Datenqualität noch erschwert. Noch ist man uneins, welche Indikatoren die „Mittelschicht“ am besten definieren.
Internationale Entwicklungsorganisationen definieren Haushalte als arm, die weniger als 1,90 Dollar pro Person und Tag verdienen. Jene, die 11 bis 110 Dollar verdienen, bilden die Mittelschicht, und die dazwischen gelten als „armutsgefährdet“ (die Dollar-Angaben beziehen sich auf die Kaufkraftparität von 2011). Die weltweite Armutsgrenze liegt mit 1,90 Dollar jedoch viel zu niedrig, und der Schwellenwert für Mittelschichtseinkommen diskriminiert die Menschen des globalen Südens. Die meisten von ihnen befinden sich am unteren Ende der Skala, und ihnen fehlt die soziale Absicherung, die anderswo existiert.
Dennoch werden diese Indikatoren weiterhin verwendet, weshalb Größe und Wachstum der afrikanischen Mittelschichten überschätzt werden.
Beispielsweise kam 2011 eine wegweisende Studie der Afrikanischen Entwicklungsbank – „The middle of the pyramid“ („Die Mitte der Pyramide“) – zu dem Schluss: „Das Wirtschaftswachstum der letzten zwei Jahrzehnte hat dazu beigetragen, die Armut in Afrika zu senken und hat die Mittelschicht vergrößert.“ Der Studie zufolge ist die afrikanische Mittelschicht zwischen 1980 und 2010 von 126 Millionen auf 350 Millionen – oder von 27 Prozent auf 34 Prozent der Bevölkerung – angewachsen. Dabei zählen alle Haushalte dazu, deren Pro-Kopf-Einkommen zwischen zwei und 20 Dollar am Tag liegt.
Solche Zahlen sind schwer zu glauben. Es ist unwahrscheinlich, dass die afrikanische Mittelschicht während und nach den jahrzehntelangen Strukturanpassungsprogrammen, durch die das Realeinkommen pro Kopf in vielen afrikanischen Ländern sank, so stark gewachsen ist. Der Effekt ist höchstwahrscheinlich vor allem auf die Haushalte am unteren Ende der Einkommensskala zurückzuführen, die über ein Pro-Kopf-Einkommen von zwei bis vier Dollar am Tag verfügen. Nimmt man diese Gruppe aus der Berechnung heraus, schrumpft die Mittelschicht auf 13,4 Prozent der Bevölkerung.
In ihrer Studie räumt die Afrikanische Entwicklungsbank diese Instabilität ein. „Etwa 60 Prozent der afrikanischen Mittelschicht, rund 180 Millionen Menschen, befinden sich nah an der Armutsgrenze“, schreiben die Autoren. „Sie können ständig aufgrund eines unvorhergesehenen Ereignisses in die Armut zurückfallen.“
Kein aufstrebendes Afrika
Nichtsdestotrotz hielt sich bis zur Pandemie das Bild einer wachsenden afrikanischen Mittelschicht in einem „aufstrebenden Afrika“, in welchem bessere Regierungsführung und hohe Rohstoffpreise weiterhin zu nachhaltigem Wirtschaftswachstum im mittleren bis hohen einstelligen Bereich führen werden und die Einkommen steigen. Das ist im Wesentlichen ein PR-Bild, das Afrika in gutem Licht darstellen soll. Fakt ist, dass in Afrika die soziale und wirtschaftliche Grundlage für eine florierende Mittelschicht fehlt.
Als sich in Ost- und Südostasien die Mittelschichten entwickelten, schritt zugleich die Industrialisierung voran, etablierten sich stabile Arbeitsverhältnisse und soziale Absicherung. In Afrika haben die meisten Länder, auch die mit hohem Wirtschaftswachstum, einen solchen Wandel noch nicht erlebt. „Transformation ist ein langfristiger Prozess“, stellt das African Center for Economic Transformation in seinem Bericht „Growth with depth“ („Wachstum mit Tiefe“) von 2014 fest. „Dafür braucht es konstruktive Beziehungen zwischen Staat und Privatsektor.“
Die Situation auf dem Arbeitsmarkt steht im Widerspruch zum euphemistischen Szenario einer florierenden Mittelschicht. Der Kontinent ist immer noch von prekären Beschäftigungsverhältnissen und sehr geringer sozialer Absicherung geprägt. Das machte auch der Ausbruch von Covid-19 deutlich: Die meisten Afrikaner lebten weder in den entsprechenden Verhältnissen, noch hatten sie die nötige Einkommenssicherheit, um die Lockdowns einigermaßen sicher und gut zu überstehen.
Der „Lockdown Readiness Index“ des UN World Institute for Development Economics Research führt fünf Indikatoren an, die aufzeigen, inwieweit Länder auf einen Lockdown vorbereitet sind:
- Zugang zu sicherem Trinkwasser;
- sanitäre Grundversorgung;;
- zuverlässiger Zugang zu Energie;
- Informations- oder Kommunikationsmöglichkeiten und
- eine Beschäftigung, die dauerhaft ausreichendes Einkommen generiert.
Daten aus 30 afrikanischen Ländern zeigten für das Jahr 2019, dass nur 6,8 Prozent der Haushalte insgesamt und 12,2 Prozent der städtischen Haushalte alle Voraussetzungen erfüllten.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kam auch eine Umfrage des Partnership for Evidence-Based Response to Covid-19 (PERC) vom Februar 2021. In den 19 erfassten afrikanischen Ländern hatten mehr als drei Viertel der Haushalte aufgrund der Pandemie ihr Einkommen teilweise oder ganz verloren, in Uganda sogar 93 Prozent. Aufgrund fehlender sozialer Absicherung gefährdet dies die Ernährungssicherheit vieler Haushalte.
Warum werden trotzdem so viele afrikanische Haushalte in offiziellen Statistiken als „Mittelschicht“ geführt? Ein wesentlicher Grund sind die Rücküberweisungen von Verwandten, die im Ausland arbeiten. Diese kurbeln den Konsum derjenigen an, die zu Hause im informellen Sektor tätig sind. Im Senegal etwa machen Rücküberweisungen zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Sie reduzieren zwar die Armut, tragen aber nicht unbedingt dazu bei, die wirtschaftliche Ungleichheit zu verringern.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es in Afrika keine aufstrebende Mittelschicht gibt, sondern ein verzerrtes Wirtschaftswachstum, von dem hauptsächlich die Oberschicht profitiert (siehe Kasten). Die afrikanischen Länder brauchen ein Entwicklungsmodell, das formelle Beschäftigungsverhältnisse und eine gewisse Einkommenssicherheit für alle schafft. Erst dann kann sich eine starke Mittelschicht herausbilden.
Ndongo Samba Sylla ist Forschungs- und Programmmanager bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
n.sylla@rosalux.sn