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Anleitung zum Bauen

Selbst in Vorzeigestädten von Entwicklungsländern führt der stete Zufluss von Menschen dazu, dass diese Neuankömmlinge auf inoffiziell besetztem Land unterkommen müssen. Ein Projekt im brasilianischen Ballungsraum um Curitiba zeigt, dass es sinnvoller ist, die schwierige Lage zu verbessern, als die Augen vor einer Realität zu verschließen, die es offiziell nicht gibt.


[ Von José Fernando Arns ]

Curitiba ist die Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Paraná. Die Hauptstadtregion (RMC) umfasst 27 Trabantenstädte im Umkreis von 100 Kilometern und hat 3,3 Millionen Einwohner. Etwa ein Drittel der gesamten Bevölkerung von Paranás lebt in diesem relativ kleinen Gebiet.

Curitiba ist international bekannt für eine zukunftsweisende Gebietsaufteilung und vernünftige Umweltpolitik. Die Hauptstadtregion verfügt über ein effizientes Nahverkehrssystem und viele öffentliche Parks. Sie ist ein Beispiel für gut organisierte Urbanisierung und fördert sogar den Erhalt von biologischer Vielfalt (vgl. Interview mit Bürgermeister Carlos Alberto Richa in E+Z, Nr. 7/8, 2008, Seite 103f.).

Dennoch hat die Infrastruktur nicht Schritt gehalten mit dem stetigen Zufluss von immer mehr Menschen in die Region. Derzeit haben nur 40 Prozent der Bewohner die nötigsten Sanitäranlagen. Es gibt 301 Siedlungen auf inoffiziell besetztem Land, in denen insgesamt ungefähr 350.000 Menschen leben.

Diverse Regierungsprogramme sollen die soziale Lücke zwischen der verarmten Unterschicht und der übrigen Bevölkerung schließen. So werden Menschen ohne Müllabfuhr ermutigt, ihren Abfall in Entsorgungszentren gegen Busfahrscheine und Essen einzutauschen. In anderen Projekten werden Kindern Schulsachen, Spielzeug, Süßigkeiten und Eintrittskarten im Tausch gegen wiederverwertbaren Müll angeboten. Trotzdem werden nur 22 Prozent des wiederverwertbaren Abfalls in der RMC sinnvoll verarbeitet. In der Natur wie in der Stadt häuft sich der Müll.

Ernste Herausforderungen

Die größten Herausforderungen in der städtischen Region sind der Mangel an Wohnraum und Hygiene. Laut Regierung haben fast 520.000 Familien kein Zuhause, 85,4 Prozent von ihnen leben von weniger als 750 Dollar pro Monat. Den meisten bleibt nichts anderes übrig, als in selbstgebauten Hütten zu hausen.

Ein Projekt der Pontifícia Universidade Católica do Paraná (PUCPR) setzt bei diesem Problem an: „Ecohabitare“ will das Wohnraumdefizit, die Hygieneprobleme und die soziale Ungerechtigkeit reduzieren. Wo andere Müll sehen, sieht Ecohabitare Möglichkeiten. Die Idee ist, Abfall in Rohstoffe umzuwandeln – für den Bau von billigen, aber sicheren und angemessenen Häusern. Dafür wurde ein preiswertes, flexibles und umweltfreundliches Architekturmodell entwickelt. Es ist so simpel, dass die Familien es selbst bauen können – für umgerechnet 40 Euro pro Quadratmeter.

Zu dem Musterhaus gehören kompostierende Trockentoiletten, die den jährlichen Wasserverbrauch einer vierköpfigen Familie um 100.000 Liter reduzieren. Zudem hat es auch solarbetriebene Wassererhitzer und Heizung sowie einen vertikalen Stadtgarten. Die Konstruktion fördert das Umweltbewusstsein und ist zugleich komfortabel, was Temperatur, Lärm, Licht, Ort, Raum, Ergonomie und Hygiene angeht.

Ecohabitare bezieht viele Fachrichtungen ein, um neue Bautechniken zu entwickeln – darunter Architektur, Industriedesign, Ingenieurwesen, Umwelttechnologie und Biologie. Genutzt werden Materialen wie Aludosen, Reifen und Plastikflaschen. Für die Nutzer hat Ecohabitare eine Bauanleitung herausgegeben – bebildert, damit auch Analphabeten damit etwas anfangen können. Das Handbuch gibt Tipps zur Ergonomie, zur Organisation der Baustelle und dazu, wie alle Familienmitglieder einbezogen werden können.

Entscheidungsfindung unterstützen

Es ist wichtig, die Bewohner in die Planung einzubeziehen. Das ermutigt sie, sich auszudrücken und motiviert sie, in ihre eigenen Häuser zu investieren. Ecohabitare will konkret Umweltqualität und Lebensstandard des Einzelnen verbessern, unterstützt aber auch weniger greifbare Prozesse, von denen ganze Kommunen profitieren.

Ecohabitare hat einen pädagogischen Ansatz und organisiert Diskussionen und technische Arbeitskreise, betreibt also gewissermaßen Erwachsenenbildung. Indem die Fantasie der Bürger angeregt und der Austausch gefördert wird, werden Kommunen gestärkt.

Ecohabitare spricht vor allem um die 15-Jährige Teenager an, die vom Sammeln verwertbaren Straßenabfalls leben. Sie sollen lernen, Probleme zu lösen, zu kommunizieren und Führungsqualitäten zu entwickeln. Ecohabitare beschäftigt die Jungendlichen für zwölf Monate als „Entscheider“. Viele von ihnen hatten nie zuvor die Chance, ihre Ideen, Gefühle oder Meinungen kund zu tun. Studenten von der PUCPR begleiten das Ganze, sie stoßen Debatten an, geben Anreize geben, regen kritisches Denken an und entwickeln maßgeschneiderte Einzellösungen. Auch Kinder örtlicher Schulen können an Ecohabitare teilnehmen.

Die Intervention spielt sich in drei Phasen ab. In der ersten Phase besprechen die Teilnehmer ohne Intervention der Moderatoren ihre Ideen, Erfahrungen und Werte. Ihnen werden vier Diskussionsthemen angeboten:
– Lerne dich selbst und andere kennen
– Identifiziere, priorisiere und analysiere die Probleme
– Beschreibe das Potenzial jedes einzelnen Gruppenmitglieds
– Definiere mögliche Alternativlösungen für die örtliche Lage

In der nächsten Phase geht es um „gemeinsame Verwaltung“. Ausgehend von den vorangegangenen Debatten machen die Teilnehmer und Mediatoren ein gemeinsames Brainstorming. Sie diskutieren zum Beispiel, wie man eine gesunde Umwelt schafft oder worin sich die Identität von Gemeinde und Bewohnern ausdrückt. Die Diskussionen helfen, Werte wieder zu finden, die verloren gegangen oder vergessen worden sind. Diese Werte bringen Leben in die abstrakte Debatte. Die Ideen und Ansichten der Teilnehmer werden aufgezeichnet und in eine frei zugängliche Datenbank mit lokalen Sozial-, Wirtschafts- und Umweltdaten eingespeist.

Im Verlauf des Brainstormings beginnt auch schon die Planung für die letzte Etappe der Intervention: das Technologieseminar. Es sollen Wege gefunden werden, wie wieder verwertbarer Müll als Wert erkannt, und wie die Gemeinde informiert und einbezogen werden kann. Natürlich wird auch der Austausch von persönlichen, technischen und wissenschaftlichen Erfahrungen gefördert. Auf diese Weise werden die Menschen dazu ermutigt, neue Materialien herzustellen, die der Gemeinde nützlich sein können.

Fünf grundlegende Themen werden in den technologischen Arbeitskreisen behandelt:
– Solarerwärmung von Wasser und Raumluft
– Umweltfreundliche Ziegelsteine
– PVC-Trennwände
– Trockentoiletten
– Vertikale städtische Gemüsegärten

Die Studenten wechseln immer wieder die Gruppen, so dass alle Studenten alle Techniken erlernen. Die Seminare finden meist in Schulen – und damit an einem sicheren, leicht zugänglichen und vertrauten Veranstaltungsort – statt. Sobald es mehrere Lösungen für ein spezifisches Problem gibt, wird eine davon umgesetzt. Nach einer Testphase geht die Gruppe zurück ans Reißbrett, um die Maßnahmen anhand ihrer Beobachtungen zu verbessern.

Die Jugendlichen werden schließlich Wissensmultiplikatoren in ihren Gemeinden. Trotz Armut ist es möglich, geeignete und nachhaltige Lösungen für Wohnraum-, Abfall- und Hygieneprobleme zu finden. Es soll ein gesundes und nachhaltig sozial ausgeglichenes Ballungsgebiet geschaffen werden. Am besten ist es, dies auf eine gemeinschaftliche, einbeziehende und kontinuierliche Weise zu tun, die zu Hause, in Schulen, bei der Arbeit und auf allen Bereichen des städtischen Umfelds sichtbar wird.

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