Entwicklung und
Zusammenarbeit

Indigene Stimmen

„Die Welt gehört uns allen miteinander, also müssen wir auch miteinander reden“

Die Massai leben seit Jahrhunderten im Einklang mit der Natur. Doch ihre Lebensweise wird zunehmend bedroht. Alais Ole-Morindat erklärt, wie ihn seine indigene Identität lehrt, die Gaben der Natur zu bewahren und an künftige Generationen weiterzugeben – eine Lehre, die auch die industrielle Welt lernen sollte. Er sprach mit Eva-Maria Verfürth.
Alais Ole-Morindat ist ein Massai-Hirte, der sich dafür einsetzt, die Klimaresilienz in Hirtengemeinschaften zu stärken. Michaela Kuhn, Aid by Trade Foundation
Alais Ole-Morindat ist ein Massai-Hirte, der sich dafür einsetzt, die Klimaresilienz in Hirtengemeinschaften zu stärken.

Dieser Artikel ist Teil einer Interviewreihe, in der Indigene Stimmen aus verschiedenen Teilen der Welt zu Wort kommen, darunter eine Turkana aus Kenia, eine Santal aus Indien und ein Sámi aus Norwegen.

Sie stammen aus einem Massai-Dorf in der Nähe der Nationalparks Tarangire und Manyara im Norden Tansanias. Was bedeutet Ihnen Ihre Massai-Identität?

Als Massai und Viehzüchter basiert meine Lebensphilosophie auf drei Säulen, von denen aus ich meinen Gott, die Menschen auf der Erde, die Zukunft und meine Realität betrachte. Die erste dieser Säulen sind die natürlichen Ressourcen: Wasser, Weideland, Hoch- und Tiefland, Wälder, Grasland, Salzpfannen und Wildtiere. All diese Ressourcen sind Geschenke Gottes, und wir tragen die Verantwortung, sie für die Millionen von Menschen zu bewahren, die nach uns kommen werden. Ich muss den Stab also an die jüngere Generation weiter­reichen und ihr sagen, dass sie dieses Geschenk ebenfalls schützen soll. 

Die zweite Säule ist meine Viehherde: Rinder, Schafe und Esel. Sie ermöglichen mir Tag für Tag meinen Lebensunterhalt. Ich trinke Milch, esse Fleisch, verkaufe Kühe und bezahle mit dem Geld Rechnungen und Steuern. Auch mein Vieh nutzt die erste Säule, da es Land, Weideland und Wasser benötigt. 

Die dritte Säule ist meine Gemeinschaft: Wir müssen gemeinsam wachsen. Unser Ansatz ist, dass wir alle leben und nebeneinander existieren wollen, und unsere Strategie dafür ist die Mobilität: Da wir in Trockengebieten leben, ziehen wir weiter, wenn es kein Gras mehr gibt oder es nicht regnet. Wir verhandeln mit den anderen, wohin wir ziehen, damit wir nicht mit ihnen kämpfen müssen. All das ist Teil des Systems.

Dieses System ist jedoch zunehmend in Gefahr.

Ja, Wirtschaftsunternehmen aller Art setzen dem System zu. Dazu gehören Agrarunternehmen, der Abbau von Edelsteinen wie Tansanit, Rubin und Diamanten sowie der Bau von Luxuscamps und -hotels. All das geschieht zu einer Zeit, in der kaum Regen fällt, sich das Klima verändert und die Welt nicht zur Ruhe kommt. Als Indigene befürchten wir, dass immer mehr Ressourcen benötigt werden und wir unsere Lebensgrundlage verlieren.

Was möchten Sie den Menschen mitgeben, die Ihre Lebensweise bedrohen?

Die Ressourcengewinnung der industriellen Welt ist zu egoistisch. Seit Langem schützen wir Indigene Natur und Tierwelt, die nun ausgebeutet werden. Wir sind die Hüter der Artenvielfalt; sie ist Teil unserer Philosophie. Der wirtschaftliche und politische Wert der natürlichen Ressourcen mag wichtig sein, aber die soziokulturelle und spirituelle Bedeutung hat für uns einen höheren Stellenwert. Das ökologische Gleichgewicht zu erhalten, gibt uns ein Gefühl des inneren Friedens; wir blicken dann positiv in die Zukunft. Wir sollten nicht egoistisch sein. Als Generation sollten wir uns vielmehr unserer Verantwortung bewusst sein und das Zepter an jene weiterreichen, die noch geboren werden.

Was würde Ihnen als Massai-Gemeinschaft helfen?

Wir müssen bei jedem Entwicklungsdialog und jedem Naturschutzprozess in den Mittelpunkt gestellt werden – als Subjekte, nicht als Objekte. Außerdem muss es uns möglich sein, unsere Argumente gegenüber Politiker*innen und Entscheidungsträger*innen zu vertreten. So wie die Wissenschaft die Prozesse beeinflusst, sollten auch unsere Traditionen und Werte eine Rolle spielen. Wenn unsere Welt eine Zukunft haben soll, haben wir keine Zeit mehr für Monologe – wir müssen in den Dialog kommen. Bei den derzeitigen globalen Strukturen sind es jedoch nur wenige Menschen, die diskutieren und Entscheidungen treffen. Als Indigene werden wir in der Debatte kaum gehört, dabei haben wir durch den Klimawandel am meisten zu verlieren. Ich möchte, dass die Armen, Ausgegrenzten und Stimmlosen Teil des Diskurses werden, damit auch ihre Perspektive Einfluss auf die Politik hat und damit auf die Art und Weise, wie wir als Menschen leben wollen. Die Welt gehört uns allen miteinander, also müssen wir auch miteinander reden.

Alais Ole-Morindat ist ein Massai-Hirte und Programmdirektor bei African People and Wildlife (APW). Er setzt sich für die Förderung der Klimaresilienz in Hirtengemeinschaften ein und hat mit mehreren internationalen Organisationen und NGOs zusammengearbeitet.
olemorindat@hotmail.com  

Wir sprachen mit Alais Ole-Morindat auf einer Pressekonferenz von Aid by Trade Foundation während der Hamburg Sustainability Conference 2025.

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