50 Jahre

Künftige Herausforderungen

Aus Sicht eines Schweizer Experten sollte Deutschland eine stärkere globale Führungsrolle einnehmen. Relevante Themen sind dabei unter anderem saubere Energie und höhere staatliche Entwicklungshilfe (ODA).


Von Gilles Carbonnier

Nachdem vor 50 Jahren diverse Länder südlich der Sahara unabhängig wurden, entstanden 1961 viele bilaterale Institutionen der Entwicklungspolitik – unter anderem auch in der Bundesrepublik Deutschland und der Schweiz, meinem Heimatland. Der 50. Geburtstag bietet eine gute Gelegenheit, Erfolge und Rückschläge zu reflektieren. Vor allem aber ist es ein Anlass, den Blick auf künftige strategische Prioritäten zur richten. Als Außenstehender werde ich hier mein Verständnis der Entwicklungspolitik im Allgemeinen und der deutschen Entwicklungspolitik im Besonderen erläutern.

Nach 50 Jahren unterliegt die globale Entwicklungszusammenarbeit nun rasantem Wandel:
– Wegen der Verdoppelung der Bevölkerung von einer auf zwei Milliarden wird in Afrika das Land knapp, aber es wird zugleich viele Arbeitskräfte geben. Derweil erlebt Asien einen schnellen demografischen Wandel mit steigenden Lohnkosten. Dies wird regionale komparative Vorteile verändern und damit das Integrationsmuster in der Weltwirtschaft. Für Afrika birgt das Chancen und Risiken.
– Umwelt- und Energiezwänge stellen das dominante, auf Wachstum ausgerichtete Entwicklungsmodell grundsätzlich in Frage. Der zunehmende Wettbewerb um Ressourcen und die damit verbundenen Umweltzerstörungen zwingen uns dazu, unser Verhältnis zur Biosphäre zu korrigieren.
– Die überwältigende Mehrheit der armen Menschen dieser Welt lebt in Ländern mit mittleren Einkommen, für die Entwicklungshilfe nur eine kleine Rolle spielt. Armutsbekämpfung hängt immer mehr von innen- und globalpolitischen Maßnahmen ab, um Ungleichheit mit politischer Partizipation, aber weniger mit technischen Konzepten anzugehen. Die Zivilgesellschaft zu mobilisieren und mit ihr zu arbeiten ist mittlerweile so wichtig wie die Kooperation mit Regierungen.
– Das Aufkommen neuer Geber – sowohl Regierungen als auch privater Akteure – unterhöhlt das bisherige Oligopol der traditionellen OECD/DAC-Geber. Steigender Geber-Wettbewerb öffnet der Entwicklungspolitik neue Türen, etwa in Dreieckskooperationen oder Multi-Stakeholder-Partnerschaften. Zugleich schwinden die Chancen für westliche Regierungen, ihre ordnungspolitischen Vorstellungen mit an Bedingungen geknüpfter Hilfe durchzusetzen.
– Seit 2008 erleben wir eine Serie von Krisen, die unter anderem Nahrungsmittel, Energie, Banken und öffentliche Haushalte betreffen. Das setzt auch die Entwicklungszusammenarbeit unter Druck. Viele Geber sehen sich genötigt, ihre ODA zu kürzen. Deutschland kommt wegen seiner starken Ökonomie und einer relativ soliden Haushaltslage nun eine Führungsrolle dabei zu, den globalen Entwicklungsimpetus aufrechtzuerhalten.
– Fragile Staaten bleiben eine Herausforderung, zumal sich Katastrophen gerade in Kriegs- und Nachkriegsländern häufen. Die Kombination von Entwicklungspolitik mit Verteidigungspolitik und Diplomatie hat bisher bestenfalls zu gemischten Resultaten geführt. Deshalb ist es nötig, die Rolle von Entwicklungshilfe in integrierten Sicherheitskonzepten zu überdenken.

Wie können bilaterale Entwicklungsinstitutionen vor dem Hintergrund globaler und lokaler Herausforderungen bestehen oder sogar wichtiger und effektiver werden? Wie sieht das im Fall Deutschlands aus?

Für einen Außenstehenden ist Deutschland – als einer der größten Geber in Europa und der Welt – eindeutig ein Hauptakteur der internationalen Entwicklungspolitik. Wegen seiner besonderen Vergangenheit hat Deutschland Erfahrung darin, zum Wiederaufbau eines kriegszerstörten Landes heimische Kräfte in Verbindung mit externer Hilfe zu mobilisieren. Auch nach dem Kalten Krieg gelang es, die Wirtschaft in der ehemaligen DDR wieder anzukurbeln. Heute hat Deutschland die stärkste Volkswirtschaft Europas – mit einer soliden Industrie, stabilen öffentlichen Finanzen und einem weithin geschätzten Bildungswesen. Die Qualität der deutschen Entwicklungshilfe ist international anerkannt.

Mehr Kohärenz

In den meisten Entwicklungsländern macht ODA heute nur einen kleinen Teil des Sozialprodukts und der Staatseinnahmen aus. ODA hat oft weniger Einfluss auf Entwicklungsländer als das Handeln der Geberstaaten in anderen Politikfeldern wie Migration, Handel, Finanzen, Sicherheit, Landwirtschaft, Investitionen oder Forschung und Technologie. Folglich ist die deutsche Politik für die globale Entwicklung sehr wichtig, und deshalb muss Politikkohärenz im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung höchste Priorität haben.

In den vergangenen zwei Jahrzehnten war eine Stärkung der Kohärenz bezüglich der Begriffsdefini­tionen, Analysen und Rechenschaftslegung zu erkennen. Zivilgesellschaftliche Organisationen und einige bilaterale Institutionen nehmen eine noch konsequentere Haltung mit Blick auf viele Politikfelder ein, die die globale Entwicklung beeinflussen.

In der Praxis wird Kohärenz oft fälschlicherweise mit ressortübergreifender Koordination gleichgesetzt, aber es gibt kaum Fortschritte, was kohärentere Politikformulierung und -implementierung angeht. Offensichtlich ist komplette Kohärenz nicht machbar. Wegen der Vielfalt widersprüchlicher Interessen in einer Gesellschaft ist Inkohärenz in der Politik tief verwurzelt. Folglich sollte entwicklungspolitische Kohärenz nicht als realisierbares Ziel, das erreicht werden muss, verstanden werden. Kohärenz sollte vielmehr als heuristisches Werkzeug in der aufgeklärten demokratischen Diskussion in Geberländern dienen. Das ist eine Vorbedingung, um die himmelschreiende Inkongruenz zwischen innenpolitischen und entwicklungspolitischen Zielen zu minimieren, und dürfte dazu beitragen, Ausgleichs- oder Korrekturmaßnahmen zu treffen.

Um einen substanziellen Einfluss zu haben, muss Politikkohärenz im Sinne der nachhaltigen Entwicklung Teil der allgemeinen Entscheidungsfindung werden. So sollten die Auswirkungen, die neue Gesetze auf Entwicklungsländer haben dürften, vor deren Verabschiedung bewertet werden. Außerdem sollte die entwicklungspolitische Debatte im Parlament klären, ob und wie diverse nationale Entscheidungen die internationale Entwicklung beeinträchtigen – oder sogar fördern. Zu den relevanten Themen gehören Handel, geistiges Eigentum, Sicherheit, Finanzen und Migra­tion. Die Stärkung der Kohärenz setzt Kompetenz und ausreichende Ressourcen in den entwicklungspolitischen Institutionen sowie eine starke Stimme im Kabinett voraus. Auf Grund seines wirtschaftlichen und politischen Gewichts kann Deutschland eine Führungsrolle einnehmen und diese Agenda in der EU und auch auf globalem Niveau voranbringen.

Verteidigung und Diplomatie

Viele Geber, auch Deutschland, sind militärisch im „Krieg gegen den Terror“ involviert, indem sie Truppen in Entwicklungsländern wie Afghanistan einsetzen. In dem lobenswerten Versuch, Kohärenz zu steigern, wurden integrierte Konzepte entworfen, um Entwicklungs- mit Verteidigungpolitik und Diplomatie zu verbinden (3D – Development, Defence, Diplomacy). In der Praxis hat das Militär jedoch Vorrang vor Entwicklungsinstitutionen. Erinnert sei nur an den viel höheren Finanzaufwand und die größere politische Bedeutung des Ein­satzes von Kampftruppen. Letztlich scheint die Entwicklungszusammenarbeit oft für militärische und diplomatische Zwecke instrumentalisiert zu werden.

Zugleich wird ein Großteil der ODA fragilen Staaten zugeteilt, wobei oft deren Absorptionsfähigkeit überschritten wird. Entwicklungshilfe in Verbindung mit Stabilisierung und Aufstandsbekämpfung birgt zudem das Risiko, von den Empfängern als Instrument westlicher Militärintervention wahrgenommen zu werden. Sicherlich ist Entwicklungszusammenarbeit – anders als humanitäre Hilfe – ein außenpolitisches Instrument, das weder neutral noch unab­hängig sein muss. Aber es wäre zu kurz gedacht, Entwicklungszusammenarbeit an Sicherheitsziele zu binden, um innenpolitische Unterstützung und mehr Budgetmittel zu bekommen. Die Entwicklungspolitik braucht in 3D-Ansätzen eine stärkere Stimme. Dabei gilt es, die Erfahrung damit, was in von Konflikten geprägten Staaten funktioniert, zu beherzigen.

Führungspotential

Deutschland ist seit langem ein Wegbereiter des globalen Umweltbewusstseins, besonders mit Blick auf den Klimawandel und seine Folgen. In der Praxis hat dies aber nicht zu einer anhaltend höheren Zahl von Projekten für Energieeffizienz und saubere Energieträger geführt (Michaelowa und Michaelowa 2011).

Eine deutsche Führungsrolle etwa bei der Förderung von innovativen Mechanismen im UNFCCC-Kontext – wie der Verringerung von Emissionen aus Entwaldung und zerstörerischer Waldnutzung (REDD) – ist höchst willkommen. In der Post-Fukushima-Ära, in der sich wegen der wachsenden Energienachfrage eine große Ölkrise abzeichnet, wird Deutschland eine Führungsrolle dabei zukommen, eine globale und regionale Ordnung für Energiefragen zu schaffen – und zwar über die unmittelbare Versorgungssicherheit hinaus. Außerdem dürfte sich die industrielle Kompetenz und Technologie Deutschlands in Dreieckskooperationen mit Schwellen- und Entwicklungsländern als sehr wertvoll erweisen.

Deutschland muss ein Schlüsselakteur der internationalen Entwicklungszusammenarbeit bleiben. Von Deutschland wird erwartet, den ODA-Aufwand zu steigern – besonders jetzt, da andere Geber mit Blick auf ihre schlimmeren Haushaltsdefizite ihre ODA-Leistungen senken dürften. Gleichzeitig sollte Deutschlands Politik über Finanzzuweisungen hinausgehen und nachhaltige Entwicklungsstrategien – besonders hinsichtlich des Klimawandels und einer grüneren, weniger CO2-intensiven Wirtschaftsweise – anstreben. Dank seiner starken Industrie und technischer Expertise hat Deutschland einen komparativen Vorteil bei der Förderung der Diversifizierung armer Volkswirtschaften und der Energieversorgung dort. Industrialisierung und Diversifizierung werden in Afrika entscheidend dazu beitragen, mehr Arbeitskräfte in den urbanen Zentren zu beschäftigen. ­Zugleich muss State Building samt Stärkung der ­Zivilgesellschaft dazu beitragen, die ansonsten ­uneingeschränkte Macht der Exekutive zu begrenzen.

Vor einem halben Jahrhundert hat die erste Generation deutscher Entwicklungshelfer den Weg geebnet und sich in das schwierige Terrain der grenzüberschreitenden Kooperation hinein gewagt. Zum 50. Geburtstag des deutschen Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung möchte ich dem Ministerium, seinen Vorfeldorganisationen und den Mitarbeitern zu Erfolg und guter Arbeit gratulieren. Mit seiner besonderen Geschichte, seiner Lage mitten in Europa, seiner allgemein anerkannten industriellen Stärke, seinem Sozialstaats- und Bildungswesen sollte Deutschland seinen Beitrag in den wichtigsten internationalen Institutionen steigern, um globale öffentliche Güter bereitzustellen und zu schützen.

Der Anteil der über multilaterale Organisationen kanalisierten deutschen Hilfe ist bisher vergleichsweise gering. Mit mehr finanzieller Unterstützung sollte Deutschland eine stärkere Führungsrolle bei der Festlegung und Formulierung globaler politischer Leitlinien und der Definition der nächsten Entwicklungsziele einnehmen, die auch saubere Energie und Umweltschutz beinhalten müssen.

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