Entwicklung und
Zusammenarbeit

Medienkompetenz

Wie Finnland seine Bürger*innen auf eine Welt voller Fake News vorbereitet

Finnland ist seit Jahren weltweit führend beim Thema Medienkompetenz. Schon Kinder im Kindergartenalter werden auf die Desinformation vorbereitet, die ihnen im Internet begegnen wird. Wir sprachen mit Kari Kivinen, dem Bildungsexperten des Amts der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO). Als ehemaliger Schulleiter in Helsinki hat er die finnische Medienkompetenzerziehung mitgestaltet.
Junge Menschen beziehen ihre Informationen von Plattformen wie TikTok, Snapchat und WhatsApp. Adobe
Junge Menschen beziehen ihre Informationen von Plattformen wie TikTok, Snapchat und WhatsApp.

Kari Kivinen im Interview mit Eva-Maria Verfürth

Weltweit fordern Fachleute bessere Medienkompetenz, um gegen die Verbreitung von Fake News anzugehen. Während in vielen Ländern wenig passiert ist, hat Finnland tatsächlich etwas unternommen: 2014 wurde Medienkompetenz in den nationalen Lehrplan für Schüler*innen aller Altersstufen aufgenommen. Wie haben Sie es geschafft, so entschlossen zu handeln?

Das hat mit dem finnischen Bildungssystem zu tun, das in vielerlei Hinsicht einzigartig ist. Wir schwimmen gegen den weltweiten Trend im Bildungswesen, der sich auf Kernfächer, Wettbewerb und Kontrolle konzentriert. Wir legen mehr Wert auf allgemeine Kompetenzen als auf prüfbares Wissen. Diese Kompetenzen sind im nationalen Lehrplan festgehalten, der regelmäßig aktualisiert wird.

Die Leistungen der finnischen Schüler*innen liegen durchweg über dem OECD-Durchschnitt, das sozioökonomische Gefälle hingegen ist schwächer. Können Sie mir mehr über das finnische Bildungssystem erzählen?

Jedes Kind in Finnland hat das Recht auf kostenlose, hochwertige Bildung, unabhängig davon, wo es lebt. Wir haben ein einheitliches, umfassendes Schulsystem, um sicherzustellen, dass jedes Kind die gleiche Bildung und die gleichen Chancen erhält. Es soll keine Barrieren geben. Die Schüler*innen erhalten kostenlos Mahlzeiten und Bücher und werden kostenlos zur Schule befördert. Da der Lehrberuf sehr beliebt ist, können sich die Universitäten die besten Kandidat*innen aussuchen. Auch herrscht in den Schulen viel Vertrauen, denn Schulleitungen und Lehrkräfte überprüfen die Qualität des Unterrichts selbst, statt sie extern überprüfen zu lassen. Ich war selbst Schulleiter in Finnland – wir nehmen diesen Aspekt unserer Arbeit sehr ernst.

Was war 2014?

Der neue nationale Kernlehrplan wurde eingeführt und Multiliteralität zu einem der sogenannten „transversalen Bildungsbereiche“ erklärt. Das bedeutet: Jede Lehrkraft muss diese Kompetenz in allen Altersgruppen fördern, egal ob im Sport-, Englisch- oder Mathematikunterricht.  

Multiliteralität ist definiert als die Fähigkeit, Informationen zu beschaffen, zu verarbeiten und zu überprüfen. Warum hat das eine so hohe Priorität?

In Finnland gilt Medien- und Informationskompetenz als grundlegend für die Demokratie. Sie wird nicht nur von Schulen, sondern auch von Bibliotheken, zivilgesellschaftlichen Organisationen und Einrichtungen des lebenslangen Lernens gefördert. Und wir fördern diese Fähigkeit von klein auf, denn die meisten Kinder im Vorschulalter sind schon mit digitalen Medien in Berührung gekommen: Sie haben Filme und Werbung gesehen, Musik gehört, und manche haben Computerspiele gespielt. Wir wollen ihnen zeigen, wie sie digitale Medien auf ausgewogene und zivilisierte Weise nutzen können.

Kinder im Vorschulalter können noch nicht einmal lesen und schreiben. Wie können sie über Mediennutzung nachdenken?

Die zentrale Frage zum Erkennen von Desinformation lautet: Ist eine Information wahr oder nicht? Schon kleine Kinder können lernen, zwischen Fakten und Fiktion zu unterscheiden. Sie können zum Beispiel in der Klasse Märchen lesen und darüber diskutieren, ob die Geschichte wahr sein kann. In manchen Märchen betrügen schlaue Menschen oder Tiere andere. Daraus lässt sich eine weitere Lektion ableiten: Nicht jede Information, die man bekommt, ist wahr, sondern wird vielleicht genutzt, um einem zu schaden.

Das ist sehr interessant – bei diesen Beispielen geht es um Desinformation, aber es hat nichts mit der digitalen Welt zu tun.

Ja, und das ist etwas, was sogar jüngere Kinder sehr gut verstehen. Um Kindern das Konzept der Desinformation zu erklären, formulieren wir es neu: Wir bezeichnen Fehlinformationen als Fehler, Desinformationen als Lügen und Falschinformationen als Klatsch. Kinder sind in ihrem Alltag meist gut vertraut mit Fehlern, Lügen und Gerüchten. Sie lernen, dass nicht alle Informationen stimmen und dass es bedeutsam ist, ob eine Information mit der Absicht verbreitet wird, jemandem zu schaden.

Sie haben zusammen mit der Fakten-Check-Organisation FaktaBaari Unterrichtsmaterialien für Schulen entwickelt. Was empfehlen diese Materialien?

Unser Ziel während des FaktabaariEDU-Projekts war es, die professionelle Überprüfungsmethodik der zivilgesellschaftlichen Organisation auf ein schulisches Umfeld anzuwenden. Wir haben ihre lange Fakten-Check-Liste auf drei Hauptfragen reduziert, die helfen sollen, festzustellen, ob eine Information vertrauenswürdig ist:

  1. Wer steht hinter der Behauptung? Ist die Quelle vertrauenswürdig?
  2. Welche Beweise gibt es für die Behauptung?
  3. Was sagen andere Quellen darüber?

Wenn man sich nicht sicher ist, ob eine Behauptung stimmt, empfehlen wir, nach anderen Quellen zu suchen, die die Behauptung belegen. Wenn in zuverlässigen Quellen nichts dazu zu finden ist, ist die Behauptung wahrscheinlich falsch. Teilen Sie sie nicht.

Was ist für Sie eine „zuverlässige“ Quelle?

Das ist eine sehr wichtige Frage. Es ist nicht nur wichtig, die Menschen vor Desinformation zu warnen – fast genauso wichtig ist es, ihnen beizubringen, welche Quellen verlässlich sind. Man kann zum Beispiel den meisten wissenschaftlichen Quellen und Qualitätsmedien vertrauen, denn Medienschaffende und wissenschaftlich Arbeitende halten sich an ethische Standards. Heutzutage ist sogar Wikipedia zu einer recht zuverlässigen Informationsquelle geworden, besonders in den wichtigsten Sprachversionen. Wir empfehlen jedoch, Wikipedia nicht als einzige Quelle zu verwenden, sondern auch andere Quellen zu prüfen.

Studien deuten darauf hin, dass Wikipedia heutzutage, was die Genauigkeit angeht, sogar mit anderen Online-Enzyklopädien vergleichbar ist. 

Fehlinformationen werden auf Wikipedia meist ziemlich schnell korrigiert. Das stimmt. Deshalb ist Elon Musk auch so darauf aus, dagegen vorzugehen.

Im Alltag überprüfe auch ich nicht jede Information, die ich erhalte, weil es einfach nicht machbar ist. Was würden Sie mir empfehlen, um kritisch zu bleiben?

Löst eine Behauptung, ein Bild oder ein Video, auf das Sie online stoßen, eine starke emotionale Reaktion aus, sollten Sie vorsichtig sein: Halten Sie inne, denken Sie nach und prüfen Sie dann! Es gibt viele relativ harmlose Desinformationen im Internet, gefährlich aber sind Bilder oder Behauptungen, die uns emotional berühren. Schockelemente werden strategisch eingesetzt, denn wenn wir Angst haben oder wütend sind, lassen wir uns eher von unserem Instinkt leiten als vom Verstand.

Finnland hat mehrere Jahre in Folge den ersten Platz im Europäischen Medienkompetenzindex belegt. Haben Sie Ihr Ziel erreicht oder gibt es noch mehr zu tun?

Digitale Kompetenz ist ein ehrgeiziges Ziel. Auch wenn wir an oberster Stelle stehen, zeigen Untersuchungen des finnischen CRITICAL-Projekts, dass 40 % der 12-Jährigen in Finnland nicht eindeutig zwischen kommerziellen und redaktionellen Inhalten unterscheiden können. Die meisten Jugendlichen können irreführende Diagramme nicht interpretieren, und fast ein Drittel der Gymnasiast*innen hat Mühe, zu beurteilen, ob Texte glaubwürdig sind. Auch wenn Finnland also im Durchschnitt recht gut abschneidet, klaffen erhebliche digitale Lücken. Vor allem die Heterogenität der Schüler*innen ist herausfordernd. Zum Beispiel ist es schwieriger, junge Menschen zu erreichen, die nicht fließend Finnisch sprechen und gesonderte Schulbildung erhalten. In Finnland lebt zudem eine große russische Minderheit, die tendenziell russische Medien verfolgt. Es ist aber absolut wichtig für jeden jungen Menschen, über kritische digitale Kompetenzen zu verfügen – erst recht in unserem Zeitalter der Künstlichen Intelligenz. Auch der Aufstieg von TikTok besorgt uns sehr, und wir hoffen, dass wir unseren Kindern beibringen können, damit umzugehen.

Wie wollen Sie das erreichen?

Junge Menschen beziehen ihre Informationen aus anderen Quellen als ihre Lehrkräfte, etwa über TikTok, Snapchat und WhatsApp. Wir müssen diese Kluft schließen. Aber wir können Schüler*innen nicht zwingen, andere Quellen zu nutzen – alles, was wir tun können, ist zu versuchen, Lehrkräfte und Eltern zu schulen, damit sie junge Menschen verstehen.

Sie arbeiten jetzt für die EU beim EUIPO und sind an der Aktualisierung des Referenzrahmens für digitale Kompetenzen beteiligt. Sollten andere europäische Länder dem finnischen Beispiel folgen?

Unser Weg lässt sich nicht einfach so auf andere Länder übertragen, aber die Ziele der EU können als Leitlinie dienen. Die EU verfolgt ein ehrgeiziges Ziel: Bis 2030 sollen mindestens 80 % der erwachsenen Bevölkerung digital kompetent sein. Digitale Kompetenz bedeutet, dass die Bürger*innen wissen, dass Informationen im Internet Fehlinformationen und Desinformationen enthalten, dass sie gesponserte Inhalte erkennen und Suchergebnisse analysieren können und dass sie bereit sind, zu überprüfen, ob Informationen stimmen. Die EU-Länder sollten Wege finden, diese Fähigkeiten schrittweise in ihre Bildungssysteme einzubringen. Der Bedarf dafür ist enorm: Laut OECD lernt nur etwas mehr als die Hälfte der 15-Jährigen in der EU zu unterscheiden, ob eine Information eine Tatsache ist oder eine Meinung. Dabei ist das eine wichtige Voraussetzung, um Fake News zu erkennen: Fakten können verifiziert werden, Meinungen nicht.

Finnland hat ein solides und gut finanziertes Bildungssystem, was viele andere Länder nicht haben. Was können diese tun, um ihre Bürger*innen auf die Desinformation vorzubereiten, der sie begegnen werden?

Kinder, die viel lesen, können Fake News besser erkennen als ihre Altersgenossen. Deshalb empfehle ich, dass Kinder zuerst richtig lesen und schreiben lernen. Wer nicht fließend lesen kann und sich auf visuelle Informationen von TikTok verlässt, kann Informationen nicht verifizieren. Auch sollten Lehrkräfte schon früh damit anfangen, mit ihren Schüler*innen Informationen aus dem Internet zu bewerten und nicht bis zur Sekundarstufe warten. Aber ich stimme zu, dass es in einigen Ländern sehr schwierig sein kann, Medienkompetenz zu vermitteln.

Zum Beispiel? 

Ich habe Lehrkräfte aus den USA ausgebildet. Oft sind die Eltern der Schüler*innen demokratisch oder republikanisch eingestellt, und wenn Lehrkräfte vor Fehlinformationen der einen oder der anderen Seite warnen, fühlen Eltern sich oft beleidigt. Das ist sehr heikel. Die Vermittlung von Medienkompetenz wurde oft an Bibliothekar*innen ausgelagert.

Was ist mit Ländern, in denen Informationen zensiert werden oder die Regierung selbst Interesse daran hat, Desinformationen zu verbreiten?

Informationen sind heutzutage global. Sie müssen bedenken: Finnland hat eine 1340 Kilometer lange, geschlossene Grenze mit Russland. Physisch wird sie nicht überquert, online aber permanent. Fake News sind genauso grenzüberschreitend wie zuverlässige, ausgewogene Informationen. In Ländern mit eingeschränktem Zugang zu unabhängigen Informationen ist es umso wichtiger, dass die Menschen aktiv nach zuverlässigen Quellen suchen. Das Internet ermöglicht es, Informationen aus mehreren Quellen zu ziehen. Das könnte tatsächlich weltweit der Kern von Verifizierung sein: Bleiben Sie nicht in einer Filterblase – versuchen Sie immer, das große Ganze zu sehen.

Links

FaktaBaari
faktabaari.fi/in-english/

Europäische Kommission: DigComp 2.2 - EU-Referenzrahmen für digitale Kompetenzen (nur auf Englisch).
publications.jrc.ec.europa.eu/repository/handle/JRC128415

Kari Kivinen ist Bildungsexperte beim Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) und ehemaliger Generalsekretär des Systems der Europäischen Schulen. Von 2016 bis 2020 war er Leiter der Französisch-Finnischen Schule in Helsinki. Er fördert KI und digitale Kompetenz durch die finnische zivilgesellschaftliche Organisation FaktaBaari, die sich für Faktenprüfung und digitale Informationskompetenz einsetzt.
kivinen.wordpress.com 

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