Soziale Inklusion

Elterliche Bürde

In den vergangenen 20 Jahren sind die Einschulungsraten für Grund- und weiterführende Schulen in Indien enorm gestiegen. Weil staatliche Bildungseinrichtungen oft immer noch schlecht sind, wählen viele Eltern Privatschulen – selbst wenn sie wenig Geld haben.
Sogar Dorfbewohner wünschen sich inzwischen Bildung für ihre Töchter: Mädchen bei den Hausaufgaben in Madhya Pradesh, 2007. Joerg Boethling/Photography Sogar Dorfbewohner wünschen sich inzwischen Bildung für ihre Töchter: Mädchen bei den Hausaufgaben in Madhya Pradesh, 2007.

Pinky arbeitet als Dienstmädchen in sieben Haushalten in Lucknow, der Hauptstadt von Uttar Pradesh, einem der bevölkerungsreichsten Staaten Indiens. Obwohl ihr Mann ein unregelmäßiges Einkommen hat, schickt sie ihre zehnjährige Tochter in die Stadt in eine preiswerte Privatschule. Ihr Kind soll Englisch lernen und später nicht auf schlecht bezahlte Jobs angewiesen sein.

Das Mädchen ist das erste Familienmitglied, das zur Schule geht. Sie steht für den enormen Wandel, der sich in Indien gerade vollzieht. Junge Inder vom Land wie aus der Stadt sind inzwischen gebildeter als ihre Eltern. Noch in den 1990ern besuchte etwa die Hälfte der indischen Bevölkerung im Schulalter keine Schule.

Heute gehen etwa 70 Prozent der 18-Jährigen noch zur Schule – 2001 waren es nur 25 Prozent. Laut dem Annual Status of Education Report (ASER) 2018 ist die Zahl der Mädchen, die keine Schule besuchen, gesunken. Bei den Elf- bis 14-Jährigen sind es nur noch 4,1 Prozent, im Jahr 2006 waren es noch 10,3 Prozent. Sogar auf dem Land haben Mädchen diesbezüglich weitgehend aufgeholt. Von den 14-Jährigen sind 94 Prozent der Mädchen und 95 Prozent der Jungen in Schulen registriert.

Das ist eine positive Entwicklung, aber echte Probleme bestehen fort. Viele Schüler können nach der Grundschule kaum lesen. Die ASER-Daten der vergangenen Jahre zeigten durchwegs miserable Lernerfolge.

Heute gehen etwa 250 Millionen junge Inder zur Schule – das sind rund 20 Prozent der indischen und drei Mal so viel wie die deutsche Gesamtbevölkerung. Die wirtschaftliche Zukunft hängt von einer gut ausgebildeten Generation ab, die persönliche Zukunft ohnehin. Trotzdem liegt die Verantwortung für eine gute Bildung weitgehend bei den Eltern. Diese bevorzugen Privatschulen, und immer weniger Schüler werden an staatlichen Schulen angemeldet.

Privatschulen hatten schon immer ein besseres Image als öffentliche Bildungseinrichtungen und die Kinder wohlhabender Eltern besuchen seit je Privatschulen. Ein neuer Trend sind preisgünstige Privatschulen, deren Einschulungszahlen von 44 Millionen (2010-11) auf 61 Millionen (2016-17) gestiegen sind. Zugleich sank in den 21 Staaten, für die Daten verfügbar waren, die Zahl der Einschulungen an staatlichen Schulen von 126 auf 108 Millionen. Manche Schulen verlangen lediglich 10 Dollar pro Monat an Schulgeld.

Günstige Privatschulen sind auf Profit ausgerichtet und unterscheiden sich darin von manch nichtstaatlicher Schule in Slums und Dörfern. Karitative Schulen erweisen mancher Randgruppe wertvolle Dienste, aber es gibt nicht genug, um die Massen an Kindern armer Familien zu unterrichten.

Anders als noch im vorigen Jahrhundert sind diese Familien aber nicht mehr so arm, dass sie kaum genug zum Leben haben. Deshalb können sie es sich leisten, kleine Summen in die Zukunft der nächsten Generation zu investieren. Es macht es für Eltern auch leichter, für die Bildung ihrer Kinder aufzukommen, dass arme Frauen inzwischen im Schnitt nur noch 3,2 Kinder bekommen.

In ihrem Buch über Privatschulen in Indien äußert die Professorin Geeta G. Kingdon vom University College London die Vermutung, dass nicht nur mehr Kinder in preisgünstigen Privatschulen angemeldet werden, sondern dass es auch immer mehr von diesen gibt. Offizielle Daten dazu sind unzuverlässig, da viele Schulen nicht offiziell registriert sind.

Eltern finden diese Schulen laut Kingdon nicht zuletzt deshalb attraktiv, weil auf Englisch unterrichtet wird. Gutes Englisch zu sprechen ist in Indien aus verschiedenen Gründen wichtig. Die Sprache der ehemaligen Kolonialmacht ist in Regierung, Recht, Wirtschaft und unter Akademikern nach wie vor fest verankert, zudem gewinnt sie durch das Internet an Relevanz. Besonders Südinder lehnen es ab, die offizielle Landessprache Hindu zu nutzen, die linguistisch ganz anders als die südindischen Sprachen ist.

Staatliche Schulen sind häufig runtergekommen und schäbig, und es mangelt oft an Grundlegendem wie Strom und richtigen Toiletten, erklärt die Autorin. Sie haben zu wenige und oft unmotivierte Lehrkräfte. Selbst an einfachen Privatschulen sind Infrastruktur und Lernumgebung meist besser. Problematisch ist allerdings, dass diese nicht gut reguliert oder kontrolliert werden.

In Indien gibt es eine politische Kontroverse darüber, das Schulwesen den Marktkräften zu überlassen. Befürworter von Privatschulen beklagen ein feindseliges Umfeld für „Bildungsunternehmertum“. Sie sehen in günstigen Privatschulen die bezahlbare und bessere Alternative zu staatlichen Schulen – für Eltern und auch für den Staat, da diese Schulen kaum staatliche Subventionen benötigten. Andere fordern, dass die Regierungen auf zentraler und bundesstaatlicher Ebene endlich Verantwortung übernehmen. Sie argumentieren, eine Liberalisierung von Grund- und weiterführender Bildung führe dazu, dass die Ärmsten abgehängt würden und Chancengleichheit immer weniger gegeben sei.

Die Zentralregierung nutzt das Prinzip des Wettbewerbsföderalismus, um bessere Bildungseinrichtungen und -möglichkeiten zu gewährleisten. So soll „Druck auf alle Politiker in allen Bundesstaaten ausgeübt werden, damit sie bei vordefinierten Zielen und Kennzahlen besser abschneiden”, sagt Amitabh Kant. Er ist der Chef der National Institution for Transforming India (NITI Aayog), einer nationalen Behörde zur Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung. NITI Aayog hat auch den School Education Quality Index (SEQI) entwickelt, um die Leistung der einzelnen Staaten zu erfassen.

Die aktuelle Zentralregierung hat einiges versucht, um eine Reihe bildungsbezogener Programme zu optimieren, hinkt aber weit hinter ihren Absichten hinterher. Nach der Amtsübernahme vor fünf Jahren wollte die Regierung von Premierminister Narendra Modi eine neue Erziehungspolitik (New Education Policy – NEP) einführen. Auch nach zwei parlamentarischen Komitees und 115 000 Konsultationen ist noch nichts entschieden. Nun stehen Parlamentswahlen an, und es ist unwahrscheinlich, dass NEP je umgesetzt wird.

Aus Sicht von Nichtregierungs-Aktivisten fehlt Indien eine kohärente Bildungspolitik. Sie sehen Mängel bei Qualität, Innovation und Ergebnissen. Zudem vermitteln Schulen nicht das, was der Arbeitsmarkt fordert. „Eine umfassendere Erziehungspolitik ist unumgänglich“, sagt Parth J. Shah von der liberalen Denkfabrik Centre for Civil Society. Diese fordert in ihrer School-Choice-Kampagne vor allem eine Verbesserung der günstigen Privatschulen.


Roli Mahajan ist freie Journalistin.
roli.mahajan@gmail.com

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