Argentinien

Basisdemokratisches Engagement

Selbstorganisation der Bürger, direkte Demokratie, basisdemokratische Mitbestimmung – all dies entstand spontan als Folge des Wirtschaftszusammenbruchs in Argentinien 2001. Noch heute sind die Nachwirkungen im Land zu spüren.
Zuspitzung der Wirtschaftskrise: Argentinier stürmen im Dezember 2001 Barrieren vor dem Justizministerium in Buenos Aires. picture-alliance/dpa Zuspitzung der Wirtschaftskrise: Argentinier stürmen im Dezember 2001 Barrieren vor dem Justizministerium in Buenos Aires.

 Um die Jahrtausendwende kam es in Argentinien zu einer schweren Rezession (1998/99) und dem Zusammenbruch des Finanzsystems (2001/02). Die Schulden des Landes wuchsen ins Unermessliche und die Regierung ergriff rigide Maßnahmen. Sie fror unter anderem die Konten von Unternehmen sowie Sparern ein und Millionen von Menschen verloren ihre Jobs.

Zwischen Dezember 2001 und Januar 2002 rutschten innerhalb von acht Wochen von rund 33 Millionen Einwohnern vier Millionen Menschen unter die Armutsgrenze. Die Folgen allein in Buenos Aires waren drastisch: Ganze Familien verloren ihre Lebensgrundlage und mussten ihre Nahrung im Müll suchen. Die Arbeitslosenquote stieg enorm an und betrug in vielen Städten mehr als 20 Prozent.

Die Wut der Menschen entlud sich in teils gewalttätigen Protesten. Verarmte Menschen plünderten Supermärkte, verwüsteten Regierungsgebäude und demonstrierten massenhaft auf den Straßen. Eine beeindruckende Protestaktion war der „Cacerolazo" (von cacerola: Topf) im Dezember 2001, ein Marsch von Tausenden, die auf leere Töpfe schlugen. Der ohrenbetäubende Lärm war die Antwort auf den Ausnahmezustand, den der amtierende Präsident Fernando De La Rúa ausgerufen hatte. Es gab täglich Tote unter den Demonstranten, gegen die der Staat mit Härte vorging.

 

Neue Organisationsform

Inmitten dieser extremen Situation entstand aus den Begegnungen der Nachbarn auf den Demonstrationen ein neues Gefühl der Zusammengehörigkeit. Menschen verschiedenen Alters und verschiedener Schichten trafen sich auf den Straßen – Jugendliche, Schüler, Studenten, Arbeitslose, Arbeiter, Geschäftsleute und Rentner. Das bisherige soziale Gefüge brach zusammen und die Zivilgesellschaft besann sich auf eine klassische Form der basisdemokratischen Organisation: die Volksversammlungen (asamblea popular).

Die Bewohner trafen sich dabei in ihren Vierteln, um über die politische Lage zu diskutieren und die Proteste gegen die Regierungsmaßnahmen zu organisieren. Versammlungsort waren zentrale öffentliche Plätze in den Wohnvierteln wie Parks oder Spielplätze. So wurden nicht mehr genutzte Orte der Begegnung wieder aktiviert. Die Volksversammlungen fanden in Buenos Aires, Santa Fé, Córdoba und anderen argentinischen Städten statt.

Die 61-jährige Nora Faggioli, eine Aktivistin von damals, erklärt: „Die Asambleas resultierten direkt aus der Notwendigkeit, in den Nächten vom 19. und 20. Dezember 2001 auf den Straßen zu bleiben und den öffentlichen Raum zurückzuerobern." Ihrer Einschätzung nach gaben die Gewalt der Regierung und der vom Staat verhängte Ausnahmezustand den Ausschlag für die Gründung der Volksversammlungen. Diese wurden von einer breiten gesellschaftlichen Schicht gestützt. Die Mittelschicht solidarisierte sich mit der Arbeitslosenbewegung (movimiento de des­ocupados) und den Arbeitern der besetzten Fabriken. Dieses sozialpolitische Phänomen kam durch das Motto „piquete, cacerola, la lucha es una sóla" (Straßensperren oder Kochtöpfe, es ist alles derselbe Kampf) zum Ausdruck. Es verweist auf die unterschiedlichen Methoden des Protests. Die Mittelschicht organisierte Demos, bei denen die Menschen auf leere Kochtöpfe trommelten, die Arbeitslosen hielten Plakate hoch und stellten Straßensperren auf.

Der Soziologe Christian Castillo, Professor an der Universität Buenos Aires, erklärt, dass sich die mobilisierten Massen gegen ein politisches und soziales System richteten, das durch eine neoliberale Wirtschaftspolitik Massenarbeitslosigkeit verursacht hatte. Der populäre Schlachtruf auf den Demonstrationen „Alle (Politiker) sollen abhauen, nicht einer soll bleiben!" machte dies deutlich.

 

Akute Probleme lösen

Die Volksversammlungen formulierten konkrete politische Anliegen: Sie machten sich für eine politische Reform stark, so dass Mandate nicht mehr unantastbar seien. Sie forderten ein höheres Budget für Bildung, Gesundheit, Renten sowie die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Sie wollten, dass privatisierte Staats­unternehmen wieder verstaatlicht und die argentinischen Auslandsschulden nicht weiter bedient würden.

Ein zentrales Ziel der Volksversammlungen war die Autonomie vom Staat. Sie erfüllten auf lokaler Ebene Aufgaben, die die Kommune nicht leistete. Sie eröffneten eigene Suppenküchen, manchmal gemeinsam mit Arbeitslosenorganisationen, um hungernden Mitbürgern zu helfen. Die meisten finanzierten sich durch Spenden oder über Lebensmittel-Kooperativen, Tauschwirtschaft, gemeinschaftliche Gemüsegärten und Flohmärkte.

Die Volksversammlungen nahmen sich vieler Probleme und Missstände an. Sie organisierten Proteste gegen die enormen Tariferhöhungen der Strom- und Wassergesellschaften und gegen die Stromsperren für Bürger, die ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen konnten. Auch die Gesundheitsversorgung stand auf der Themenliste.

Bezüglich des Problems der Immobilienspekula­tion formierten sich Kommissionen, die publik machten, wenn ein öffentliches Grundstück privatisiert werden sollte. So verhinderten die Aktivisten, dass Teile des Bahngeländes, der Küstenzone und der Parks von Buenos Aires verkauft wurden. Ebenso unterstützten sie Hausbesetzer und Kooperativen, die von Zwangsräumungen bedroht waren.

Alle Volksversammlungen boten zudem kulturelle Weiterbildung an: Workshops, Vorträge oder Hausaufgabenhilfe. Manche Volksversammlungen hatten auch Presseräte, gaben alternative Medien heraus oder machten Radio. Unter anderem kümmerten sich Asambleas sich im Krisenjahr 2002 um Leute, die aus Not Müll verwerteten, und halfen ihnen, Kooperativen zu gründen.

Als politische Legitimation dieser basisdemokratischen Organisationen diente die Verfassung der Stadt Buenos Aires von 1996. Diese sah die Dezentralisierung der Macht mittels der Kommunen vor. Die Akteure entwickelten sogar ein weitergehendes Modell der direkten Demokratie, das vorsah, dass die Volksversammlungen die Entscheidungsgewalt über die öffentlichen Ausgaben erhalten. Dazu sollte es Kommissionen geben, die von den Nachbarschaften gewählt werden, deren Mandate aber jederzeit widerrufen werden konnten.

Allein im Großraum Buenos Aires gab es rund 120 Volksversammlungen, insgesamt waren es etwa 300 im ganzen Land. Die Bewegung erreichte ihren Höhepunkt mit der Gründung der „Interbarrial de Asambleas", der bezirksübergreifenden Volksversammlung. Am 17. März 2002 gab es ein landesweites Treffen auf dem großen Platz vor dem Sitz des Präsidenten in Buenos Aires, an der rund 10 000 basisdemokratisch gewählte Vertreter aus ganz Argentinien teilnahmen. Zu weiteren Großveranstaltungen und Netzwerk-Treffen der Volksversammlungen kam es aber nicht mehr. Die neue Regierung von Präsident Néstor Kirchners stabilisierte ab 2003 die wirtschaftliche und politische Lage, und die basisdemokratische Bewegung flaute ab.

 

Nachwirkungen der Volksversammlungen

Präsident Kirchner nahm Forderungen der sozialen Protestbewegung in seine politische Agenda auf. Allmählich lösten sich viele Volksversammlungen auf oder sie konzentrierten sich auf lokal beschränkte Aktivitäten. Es entstanden daraus soziale Organisa­tionen und lokalpolitische Gruppen, Kulturzentren und Kleinbetriebe.

Auf politischer Ebene wurde die Idee der dezentralen, lokalen Mitbestimmung jedoch aufgegriffen: Die Stadtverwaltung von Buenos Aires initiierte 2005 eine politische Reform und richtete 15 sogenannte Kommunen (comunas) als administrative Einheiten ein. Seit 2011 kann jede Kommune sieben Repräsentanten in einen Rat (junta) wählen.

Aufgaben dieser Kommunen sind die Instandhaltung von Grünflächen und kleinen Straßen, das Vermitteln der Bürgerforderungen sowie Mediation bei Konflikten. Als progressives Element ist die Möglichkeit geblieben, dass Mitglieder der Juntas Comunales durch eine Volksabstimmung abgewählt werden können.

Unabhängig von der Gründung der Kommunen bestehen einige der Volksversammlungen von 2002 bis heute weiter und sind in anderer Form aktiv. Die „Asamblea de Flores" versteht sich als unabhängige soziale und politische Organisation und besetzte im Viertel Flores in Buenos Aires ein verlassenes Grundstück. Sie eröffnete auch eine Volksküche für Bedürftige und richtete ein Gesundheitszentrum für das Viertel als Teil des Hospital Álvarez ein.

 

Soziales Engagement

Die Asamblea de Flores gründete zudem verschiedene Kleinunternehmen wie eine Bäckerei, eine Schneiderei und eine Reparaturwerkstätte, um Menschen ohne Arbeit ein Einkommen zu sichern. 2004 eröffnete sie einen Kindergarten, der gleichermaßen von Eltern und Erziehern getragen wird. Außerdem bietet sie Nachhilfe für Schüler an und gründete 2005 eine Wohnkooperative, die „Casa social de Flores Ltda". Die „Asamblea Popular Plaza Dorrego" in der Altstadt von Buenos Aires im Viertel San Telmo entstand Ende des Jahres 2001 und schafft bis heute immer wieder neue Räume für Mitbestimmung im Viertel. Sie gründete zudem eine Reihe Kleinstunternehmen und führt Workshops durch.

Bekannt ist auch die „Asamblea Parque Avellaneda", deren Ziel es ist, menschenwürdige Arbeitsplätze zu sichern. Deshalb gründeten die Mitglieder die Ko­operative „20 de Diciembre", die auch offiziell eingetragen ist. Diese Kooperative hat ihre eigene Marke, „No Chains", unter der sie verschiedenes Handwerk vertreibt wie Textilprodukte und Keramikarbeiten. Sie nat sich einem Netzwerk angeschlossen, dem auch thailändischen und philippinischen Genossenschaften angehören.

Generell ist zu beobachten, dass sich Protest mittlerweile von den Metropolen in die Peripherie verlagert hat. Vor allem auf dem Lande kämpfen Umweltschützer gegen Soja-Monokulturen, destruktiven Tagebergbau und die Belastung von Wasser.

Die Krise von 2001 hat Argentinien viel Potenzial für basisdemokratische Mitbestimmung und direkte Demokratie eröffnet. Die Volksversammlungen und ihre Ideen sind in den Köpfen der Menschen noch präsent. Sie haben die Gewissheit, dass sie durch ihr Engagement von unten etwas erreichen können.

 

Sebastián Vargas ist Journalist und lebt in Buenos Aires.
zevu.vargas@gmail.com

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