Sommer-Special

Die zerstörte Seele Mauritius’

Der Roman Alma beschreibt die Suche nach einer vergangenen Zeit, die selbst schon durch und durch nachparadiesisch war. Dieser Beitrag ist der dritte unseres diesjährigen Sommer-Spezialprogramms mit Rezensionen künstlerischer Werke mit entwicklungspolitischer Relevanz.
Der ausgestorbene Dodo ist das Wappentier von Mauritius und Symbol für das verlorene Paradies. picture-alliance/Ann Ronan Picture Library Der ausgestorbene Dodo ist das Wappentier von Mauritius und Symbol für das verlorene Paradies.

Man muss sich die Insel Mauritius vor 500 Jahren als Paradies vorstellen. Menschen gab es keine, andere Raubtiere auch nicht: Das Land teilten Riesenschildkröten und Dodos unter sich auf, flugunfähige, etwa ein Meter große Vögel. Dann kamen die Europäer. Die Liste dessen, was sie und die von ihnen eingeschleppten Arten zerstört haben, ist lang; die Riesenschildkröte und der Riesenvogel sind Teil davon. Letzter lebte ausschließlich dort, er soll gegen Ende des 17. Jahrhunderts ausgestorben sein.

Heute ist der Dodo das Wappentier von Mauritius und Symbol für das verlorene Paradies. Kein Wunder, dass er in dem jüngsten Roman von Jean-Marie Gustave Le Clézio eine wichtige Rolle spielt: Der Protagonist Jérémie Felsen, ein französischer Wissenschaftler, reist nach Mauritius, um – vordergründig – nach den Spuren des Dodos zu suchen. In Wirklichkeit sucht er nach der Geschichte seiner Familie. Der Roman ist nach dem Gut benannt, auf dem die Familie über Generationen hinweg lebte: Alma. Auch diese Heimat wurde Opfer von Zerstörung.

Und es gibt noch einen Dodo im Buch: Es ist der Spitzname von Dominique Felsen, dem zweiten Ich-Erzähler, der aus der „missratenen Linie“ der Familie stammt. Dodo, in Alma aufgewachsen und ganz mit Mauritius verwachsen, erzählt seine eigene persönliche Geschichte, die von Krankheit, Armut und Ausgrenzung geprägt ist. Auch er begibt sich auf die Reise, aber in die andere Richtung: nach Frankreich. Die beiden Erzählungen laufen parallel nebeneinander her, Berührungspunkte ergeben sich durch die Familiengeschichte.

Es ist offensichtlich, dass Le Clézios eigene Geschichte eine große Rolle für den Roman gespielt hat. Der 80-jährige Schriftsteller, der 2008 den Literaturnobelpreis erhalten hat, hat selbst familiäre Wurzeln in Mauritius, als Kind eine Zeitlang dort gelebt und neben der französischen auch die Staatsangehörigkeit des Inselstaats. Er besucht ihn regelmäßig, und mehrere seiner Romane und Erzählungen spielen dort. Aufbruch und Reise, Natur und ihr Verlust, der Vergleich verschiedener Lebenswelten, Kolonialismus und seine Folgen – viele der Themen, denen Le Clézio sich in seinen Büchern widmet, finden sich auch in diesem Alterswerk wieder.

Mauritius ist in Alma einerseits Sehnsuchtsort und Gegenpol zum Leben in Europa. Andererseits ist das Paradies zerstört, woran die Familie Felsen, zumindest indirekt, eine Mitschuld trägt. Rassismus und Ungleichheit, als Folge von Kolonialherrschaft und Sklaverei, leben in der heutigen Gesellschaft fort. Wenn die Nachkommen der weißen Plantagenbesitzer feiern, räumen die Nachkommen der afrikanischen Sklaven, die auf den Plantagen schuften mussten, den Dreck weg. Ihre Kinder dürfen nur von jenseits des Zauns zusehen. Ein niederländischer Pilot beutet eine minderjährige Prostituierte aus, auf die Jérémie Felsen selbst ein Auge geworfen hat – das Verwerfliche ist in diesem Roman nie nur das Verhalten der anderen, der Protagonist ist Teil des Problems und sich dessen auch bewusst.

Dass die Gesellschaft nicht nur schwarz-weiß ist, sondern vielfarbig, wird bei Le Clézio ebenfalls deutlich. Da ist zum Beispiel die Figur Aditi, Nachfahrin von indischen Plantagenarbeitern, die nach Abschaffung der Sklaverei als Arbeitskräfte nach Mauritius kamen. Sicherlich aus der Not heraus, aber – immerhin ein Fortschritt – nicht unter Zwang. Heute stellen die indischstämmigen Mauritier rund zwei Drittel der Bevölkerung und dominieren Politik und Wirtschaft des Inselstaats.

Aditi nimmt ihr Leben nach einer Vergewaltigung selbst in die Hand. Sie widersetzt sich den gesellschaftlichen Konventionen und lebt im Wald, wo sie auch allein ihr Kind zur Welt bringt. Diese Naturverbundenheit, die im Gegensatz zum urbanen und von Technik bestimmten Leben in Europa steht, ist ein weiteres starkes Motiv bei Le Clézio. Doch ach, überall sprießen Einkaufszentren, Straßen und Hotels. Die Welt, die Jérémie Felsen sucht, ist dabei zu verschwinden. Am Ende der Geschichte ist klar, dass auch die verbliebenen Reste des Paradieses unweigerlich verlorengehen. Dodo landet in einem Asyl für Arme und Geisteskranke in Paris, Jérémie kehrt von seiner „Wallfahrt“ in sein altes Leben zurück. Er hat mit Mauritius abgeschlossen. Und damit ist auch die Geschichte der Familie Felsen in Mauritius zu Ende.


Roman
Le Clézio, J. M. G., 2020: Alma. Kiepenheuer & Witsch, Köln. (Französisches Original von 2017)

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