Sommer-Special

Land im Umbruch

Heute assoziieren die meisten Menschen Äthiopien nur mit einer Hunger leidenden Bevölkerung. Dabei hat das Land eine reiche, aber auch schwierige Geschichte. Es kann auf eine 3000-jährige Monarchie zurückblicken und einen erbitterten Widerstand gegen die italienischen Besatzer im Zweiten Weltkrieg. Auch der „Rote Terror“ oder der äthiopische Bürgerkrieg sagt den meisten nichts. Diesem dunklen Abschnitt der äthiopischen Geschichte widmet sich die Autorin Maaza Mengiste, die aus Äthiopien stammt und in den USA lebt, in ihrem Roman „Unter den Augen des Löwen“. Dieser Beitrag gehört zu unserer Sommer-Spezial-Reihe, in der wir in der Rubrik "In Kürze" Ferienliteratur empfehlen. Von Rebecca Renz
Soldaten und Studenten jubeln dem kommunistischen Regime 1977 auf dem sogenannten Revolution Square zu. Quellen belegen, dass sie dafür bezahlt wurden. picture-alliance/dpa Soldaten und Studenten jubeln dem kommunistischen Regime 1977 auf dem sogenannten Revolution Square zu. Quellen belegen, dass sie dafür bezahlt wurden.

Maaza Mengiste wurde 1971 in Addis Abeba geboren, als das Land von einer Dürreperiode heimgesucht wurde und die Proteste gegen Kaiser Haile Selassie zunahmen. In den darauffolgenden Jahren putschte das Militär gegen den Monarchen und installierte eine kommunistische Zentralregierung, die diktatorisch agierte.  Mengiste illustriert anhand einer aufwühlenden Familiengeschichte die schwierigen Jahre ab 1974 und schildert die Probleme der Zeit.

Wie viele andere Äthiopier verließ Maaza Mengiste mit ihrer Familie 1975 das Land. Nach kurzen Aufenthalten in Kenia und Nigeria zog sie schließlich in die USA. Dort schloss sie 2010 ein „Creative Writing“-Studium an der New York University ab und veröffentlichte ihren Debütroman „Unter den Augen des Löwen“ – im englischen Original „Beneath the Lion’s Gaze“.

Maaza Mengiste porträtiert die Gespaltenheit der Bevölkerung Äthiopiens in den 1970er Jahren. Ihre Protagonisten gehören einer gutbürgerlichen Familie in Addis Abeba an, der Vater ist Arzt und Royalist, der jüngste Sohn Dawit ein Revolutionär. Der Vater verschließt die Augen vor den Problemen des Landes und möchte seine Familie zusammenhalten. Dawit schottet sich stattdessen ab, schließt sich einer sozialistischen Untergrundbewegung an und verteilt Protestpamphlete.

Mengiste versucht historische Persönlichkeiten wie Kaiser Haile Selassie möglichst faktentreu darzustellen. So ist für Leser gut zu verstehen, warum sich die Bevölkerung gegen ihn auflehnt, denn er ignoriert die Problemen seiner Bevölkerung, die unter Hunger und Ungleichheit leidet. Genauso realistisch stellt die Autorin das kommunistische Regime, das sich selbst „Derg“ nannte, dar. Es übernahm 1974 die Macht und wirtschaftete das Land 17 Jahre weiter herunter.

Der Jubel über den Sturz der Monarchie in Äthiopien währt nicht lange. Die Kommunisten verhängen Ausgangssperren und installieren ein System von Spitzeln, das die Bevölkerung überwacht, um „anarchistisches“ Verhalten zu melden. Regierungsgegner werden gefoltert und ihre toten Körper werden zur Abschreckung öffentlich zur Schau gestellt. Es bilden sich Befreiungsbewegungen gegen das Regime, wobei Dawit sich einer Gruppe anschließt.

Bis heute existiert keine genau Zahl der Äthiopier, die während der Derg-Regierung ihr Leben verloren haben. Internationale Hilfsorganisationen schätzen sie auf eine halbe Million Menschen.

Maaza Mengiste versucht, die dunkle und verworrene Geschichte Äthiopiens aufzuarbeiten und die Auswirkungen auf die Bevölkerung zu zeigen. Einfache Bauern, treue Royalisten, Freiheitskämpfer, Anhänger der Rebellion und ängstliche Bürger bekommen  im Roman zu Wort.  2010 zählte die englische Tageszeitung The Guardian „Unter den Augen des Löwen“ zu einem der besten Romane des Jahres.

Rebecca Renz

Literatur:
Maaza Mengiste, 2012: Unter den Augen des Löwen. Heidelberg: Das Wunderhorn.
 

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