Sozialstruktur

Mittelschichtsmythos entspricht nicht der Wirklichkeit

Seit mehr als einem Jahrzehnt ist von Mittelschichten des globalen Südens die Rede – auch in der entwicklungspolitischen Literatur zu Afrika. Aber wer ist damit gemeint? Der im Englischen verwendete Begriff middle classes sollte jedenfalls nicht mit dem marxistischen Klassenbegriff verwechselt werden. Gemeint ist vielmehr eine Position irgendwo zwischen „oben“ und „unten“. Was Mittelschicht bedeutet, bleibt in der Tat allzu nebulös.
In Äthiopien gehen höhere Kaufkraft und größeres Angebot von Konsumgütern nicht mit stärkerer Demokratie einher: Verkäufer in Addis Abeba. Mulugeta Ayene/picture-alliance/ASSOCIATED PRESS In Äthiopien gehen höhere Kaufkraft und größeres Angebot von Konsumgütern nicht mit stärkerer Demokratie einher: Verkäufer in Addis Abeba.

Die Mittelschichten des globalen Südens erlangten vor allem dadurch Aufmerksamkeit, dass das Wirtschaftswachstum in Entwicklungsländern die dortige Sozialstruktur veränderte. In Ost- und Südostasien (und besonders in China) entkamen mit zunehmender Industrialisierung immer mehr Menschen schnell der Armut. Um als Mittelschicht zu gelten, reichte allerdings schon ein prekäres Mindesteinkommen. Dabei wird gern übersehen, dass die unteren Gruppen dieser so weit gefassten Mittelschicht keineswegs in stabilen Verhältnissen leben. Raphael Kaplinsky von der britischen Open University meinte 2014 spöttisch, alle, die nicht Hunger litten, gehörten wohl nunmehr zur Mittelschicht.

In Entwicklungsdebatten wurde diese weitgefasste Mittelschicht dennoch zum Hoffnungsträger. Experten, darunter Weltbank-Chefökonom Martin Ravallion und Nancy Birdsall vom Center for Global Development, hielten sie auf nationalstaatlicher Ebene für Motoren wirtschaftlicher, sozialer und politischer Entwicklung. Entsprechend forderten verschiedene Stimmen – wie etwa der Thinktank Brookings Institution in Washington –, die wachsenden Mittelschichten müssten gestärkt werden. Beispielhaft war diesbezüglich der Bericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD – Organisation for Economic Co-operation and Development) zu den globalen Entwicklungsperspektiven 2012. Auch die Afrikanische Entwicklungsbank (AfDB – African Development Bank) und die UN Economic Commission for Africa teilten die Euphorie.


Wunschdenken

Die großen Erwartungen entpuppten sich allerdings als Wunschdenken, das positive Merkmale bestimmter gesellschaftlicher Entwicklungen betonte und den Gesamtkontext eher vernachlässigte. Die Wirklichkeit sieht anders aus als die Mythen von der großen, kohärenten und progressiven Mittelschicht:

  • Diese Bevölkerungsgruppen sind mancherorts kleiner als gern angenommen. So urteilte der Londoner Economist schon Ende 2015, dass Afrikaner hauptsächlich reich oder arm seien, aber nicht der Mittelschicht angehörten. Auch wachsen die Mittelschichten nicht mehr stark – und das nicht erst seit der Covid-19-Pandemie. Diverse Studien legen nahe, dass nicht die Mitte afrikanischer Gesellschaften am schnellsten wächst, sondern dass die Schere zwischen unteren und oberen Gruppen sich weiter öffnet – wobei beide größer werden.
  • Entgegen der verbreiteten Annahme tragen Mittelschichten auch nicht zwangsläufig zur wirtschaftlichen Entwicklung afrikanischer Gesellschaften bei. Sie verfolgen selbstverständlich Einzelinteressen, aber dass sie darüber hinaus volkswirtschaftliches Wachstum antreiben, ist nicht belegt.
  • Leider ist auch nicht festzustellen, dass mit zunehmender Kaufkraft mancher Bevölkerungsgruppen in Afrika auch die Demokratie erstarkt wäre. Das gilt nur für bestimmte Zeiten in wenigen Ländern wie etwa Ghana. Es gibt indessen auch Gegenbeispiele wie Äthiopien und Tansania. Die Erfahrung lehrt, dass Mittelschichten sich loyal zum Staat verhalten, wenn sie von Regierungspolitik profitieren – egal, wie demokratisch oder autoritär diese sein mag. Tatsächlich ergab eine Afrobarometer-Umfrage 2012 in zahlreichen Ländern Afrikas, dass Angehörige der Mittelschichten den vergleichsweise weniger Gebildeten nicht zutrauen, bei Wahlen verantwortungsvoll abzustimmen. Mit steigendem Bildungsgrad tendierten Befragte dazu, das Wahlrecht für alle abzulehnen. Ein solch exklusives Verständnis von Teilhabe läuft bestenfalls auf „Demokratisierung“ für eine Elite hinaus.


Blinde Flecken

Welche Merkmale machen denn nun eigentlich die Mittelschicht aus? Der Begriff ist nicht klar definiert. Zahlenspielereien mit Blick auf Einkommensdaten sind auf problematische Weise unterkomplex. Es gilt, weitere wichtige Merkmale zu bedenken – wie etwa Beruf, Bildung, sozialer Status, Lebensstil und kulturelle Normen. Sie alle sind für politische Orientierung und gesellschaftliche Einflussnahme relevant.

Forschungsarbeiten in verschiedenen Ländern (Ghana, Kenia, Mosambik und Südafrika) zeigen, dass es nicht sinnvoll ist, verallgemeinernd von einer „afrikanischen Mittelschicht“ zu sprechen. Identitätsvorstellungen prägen Verhalten, beruhen aber nicht nur auf Hierarchien und Einkommen. Verwandtschaft (häufig sind Großfamilien noch zumindest teilweise intakt), städtisch-urbanen Beziehungsgeflechte, Religion, regionale Herkunft, Sprache und Ethnizität sind allesamt wichtig. Auch Gender ist eine bedeutsame Kategorie – zumal angesichts vieler von Frauen geführter Haushalte. Die Zusammensetzung eines Haushalts entspricht tatsächlich oft nicht westlichen Vorstellungen von der Kleinfamilie.

Es ist keine Besonderheit westlicher Konsumgesellschaften, dass sich von Beruf, Einkommen und sozialer Position persönliche Ansichten nicht automatisch ablesen lassen. Auch in Afrika positionieren sich Menschen sehr unterschiedlich.

Wichtig ist obendrein, welche Bedeutung jeweils die informelle Ökonomie und klientelistische Beziehungen haben. Viele Angehörige der breit definierten Mittelschicht haben keinen stabilen Wohlstand erreicht. Soziale Sicherung gibt es für viele jenseits der Großfamilie immer noch nicht. Verwandtschaftsbeziehungen stehen aber unter hohem Druck – unter anderem wegen der Gegensätze zwischen Stadt und Land sowie zwischen den Generationen.

Der Entwicklungssoziologe Dieter Neubert von der Universität Bayreuth schlug bereits 2015 vor, die Unterteilung in unterschiedliche Milieus und das Konzept der „kleinen Lebenswelten“ („Mikromilieus“) zu nutzen, um politische Prozesse – nicht nur in Afrika – genauer zu analysieren. So können soziokulturelle Faktoren erfasst werden, die politische Präferenzen und Positionierungen stark beeinflussen.


Genau hinsehen

Insgesamt lassen sich folgende Befunde festhalten:

  • Wer Mittelschichten in Afrika oder anderswo analysieren möchte, darf nicht nur unterschiedliche Einkommenshöhen berücksichtigen. Forschende müssen auch die oben genannten soziokulturellen Unterschiede einbeziehen.
  • Es wird zwar vielfach kritisiert, dass Mittelschicht meist nur mit ökonomischen Kriterien definiert wird, aber es gibt bislang keine bessere Begriffsbestimmung, die für die Analyse von Ungleichheit, Sozialstruktur und Differenzierungsprozessen mehr leisten würde.
  • Die Aussage, Mittelschichten seien tendenziell fortschrittlich und demokratisch orientiert, suggeriert eine konzeptionelle Klarheit, die mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmt. Wir müssen viel genauer hinschauen.

Ungeachtet dieser begründeten Einwände bleibt es aber weiterhin sinnvoll, sich mit Afrikas Mittelschichten auseinanderzusetzen. Deren eigentliche Größe und Substanz muss sowohl in wirtschaftlicher wie auch politischer Hinsicht genauer untersucht werden. Dabei wäre es durchaus sinnvoll, sich von der Klassentheorie inspirieren zu lassen. Sie achtet auf den Besitz von Produktionsmitteln, wodurch deutlich wird, wer ökonomisch von wem abhängt. Das würde dazu beitragen, den Mittelschichtsbegriff zu entmythologisieren.


Quellen

OECD – Perspectives on global development 2012: Social cohesion in a shifting world.
https://www.oecd.org/development/pgd/perspectivesonglobaldevelopment2012socialcohesioninashiftingworld.htm

Neubert, D., 2015: Die Fallen der „Rumsfeld Utopie“. Das widersprüchliche Verhältnis zwischen Mittelschichten, Zivilgesellschaft und Demokratie. In: Hauck, G., Lentz, I., Wienold, H., (Hrsg.), 2015: Entwicklung, Gewalt, Gedächtnis. Münster, Westfälisches Dampfboot 2015, S. 128-141.


Henning Melber ist ehem. Forschungsdirektor des Nordic Africa Institute und emeritierter Direktor der Dag Hammarskjöld-Stiftung, beide in Uppsala, und außerordentlicher Professor an der University of Pretoria und der University of the Free State in Bloemfontein.
henning.melber@nai.uu.se

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