Staatsschulden

Zeit gewonnen

Argentinien ist der Zahlungsunfähigkeit, die wegen seiner massiven Auslandsschulden drohte, entgangen. Dennoch ist eine nachhaltige Lösung der anhaltenden Schuldenprobleme noch immer nicht in Sicht.
Covid-19 verschärft die Wirtschaftskrise: Einzelhandel in Buenos Aires. Roberto Almeida Aveledo/picture-alliance/ZUMAPRESS.com Covid-19 verschärft die Wirtschaftskrise: Einzelhandel in Buenos Aires.

Ende August erzielte Argentinien eine Vereinbarung mit privaten Gläubigern, die Schulden von 65 Milliarden Dollar fast ganz umzustrukturieren. Folglich ist das Land nun nicht zahlungsunfähig, und Präsident Alberto Fernández von den Peronisten, einer Mitte-Links-Partei, kann nun die Wirtschaft reformieren.

Das hatte schon sein Mitte-Rechts-Vorgänger Mauricio Macri versucht; sein orthodoxer Ansatz scheiterte jedoch. Die Liste der argentinischen Finanzkrisen ist lang und scheint endlos (siehe Jorge Saborido im Schwerpunkt des E+Z/D+C e-Papers 2018/08). Um den Teufelskreis von Kreditaufnahme, Zahlungsausfällen und Umschuldung zu durchbrechen, muss Argentinien seine Wirtschaft grundlegend ändern.

Im August einigten sich private Gläubiger wie die globalen Vermögensverwalter BlackRock und Fidelity darauf, in den nächsten vier Jahren anstehende Fälligkeiten auf argentinische Staatsanleihen zu verlängern und dabei niedrigere Zinsen zu akzeptieren. Der Durchschnittszins sank von sieben Prozent auf rund drei Prozent. Das von Wirtschaftsminister Martín Guzmán ausgehandelte Abkommen entspricht wegen der niedrigeren Zinsen bis 2030 einem Schuldenerlass von 38 Milliarden Dollar. Interessanterweise forderten die Gläubiger weder eine vorherige Einigung Argentiniens mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) noch eine genaue Prüfung der argentinischen Konten.

Noch beachtlicher ist, dass private Gläubiger nicht auf spezifischen Reformen bestanden, um Argentinien zu nachhaltigem Wachstum zu führen. Sie akzeptierten vielmehr recht allgemeine Leitlinien. Argentinien ist weder klare politische Verpflichtungen eingegangen, noch wurden spezifische Ziele definiert.

Der Financial Times sagte Fernández, er glaube nicht an feste Zielvorgaben und Pläne. Minister Guzmán präsentierte in den Verhandlungen die „Debt Sustainability Guidelines”, ein Dokument, das auf Wirtschaftsprognosen basiert, die wegen Corona schon jetzt unrealistisch sind.

Die Gespräche thematisierten die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie gar nicht. Die Unterhändler beider Seiten betrachteten diese als vorübergehenden Einkommensschock ohne Langzeitfolgen. In den Verhandlungen erhöhte Argentinien immer wieder den Betrag, den es zur Rückzahlung anbot, bis er schließlich für die Anleihegläubiger akzeptabel war. Zahlen kann das Land aber nur, wenn die Wirtschaft sich erholt, was die Pandemie erschwert.

Waren die Gläubiger ungewöhnlich großzügig? Dagegen spricht, dass die neuen, realistischeren Konditionen Argentinien bessere Chancen geben, seine Schulden zu bedienen. Die Gläubiger hoffen, das Abkommen werde die Anleihekurse Argentiniens in die Höhe treiben – wovon sie profitieren würden.

Argentinien wird nun versuchen, die Schulden in Höhe von 45 Milliarden Dollar, die es seinem größten Einzelgläubiger IWF schuldet, zu refinanzieren. Die Gespräche werden voraussichtlich sechs Monate dauern und sich auf Darlehen mit Fälligkeiten zwischen 2021 und 2024 konzentrieren.

Der private Schuldendeal hat Argentinien vor einer Liquiditätskrise gerettet. Mit dem IWF wird das schwieriger werden. Das Land wird nachweisen müssen, dass es seinen Verpflichtungen künftig nachkommen kann. Dafür muss es glaubwürdige Wirtschaftsdaten ansetzen und einen soliden Plan für den Aufschwung vorlegen. Dem IWF muss Argentinien beweisen, dass es die gewonnene Zeit klug nutzen wird.


Der Stagflation entgehen

Der Wiederaufbau ist eine Riesenaufgabe, denn die Wirtschaft liegt am Boden. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wird 2020 nur etwa so hoch sein wie 2008. Das Pro-Kopf-BIP ist um mehr als 12 Prozent geschrumpft. Die Inflation liegt trotz Preiskontrollen bei etwa 40 Prozent. Covid-19 hat die Privatwirtschaft zerstört, höhere Staatsausgaben (und Haushaltsdefizite) nötig gemacht und die Armutsquote von 35,5 Prozent auf bis zu geschätzten 45 Prozent erhöht.

Argentiniens Volkswirtschaft ist relativ geschlossen, mit pandemiebedingt minimalen Importen. Die Devisenreserven schwinden schnell, obwohl die Regierung Maßnahmen gegen Kapitalflucht ergriffen und das Umstrukturierungsabkommen abgeschlossen hat. Der inoffizielle Wechselkurs schwankt frei und weicht um 70 bis 80 Prozent vom offiziellen Wechselkurs ab, der in einer gewissen Bandbreite an den Dollar gebunden ist. Es ist mit weiteren Abwertungen zu rechnen, was die Inflation weiter antreiben wird. Die Regierung weiß, dass sie etwas ändern muss, um ausländisches Kapital anzulocken. Sonst kann sie die stag­nierende Wirtschaft nicht wieder in Gang bringen. Das zeigt unter anderem die hohe Risikoprämie auf neue argentinische Staatsanleihen: Ihr Zinssatz liegt 10 Prozentpunkte über dem von US-Staatsanleihen. Bei den bevorstehenden Verhandlungen mit dem IWF wird Argentinien einen glaubwürdigen Plan zur Bekämpfung der Stagflation vorlegen müssen. Stagflation bedeutet, dass eine Volkswirtschaft gleichzeitig hohe Inflation, hohe Arbeitslosigkeit und kein Wachstum erfährt.

Bislang verspricht Argentinien, das Wachstum durch Ausbau der Exportwirtschaft anzukurbeln. Wegen der Rezession und nach Wechselkursabwertungen, die Importe verteuern, hat das Land allerdings derzeit tatsächlich einen Handelsüberschuss von 18 Milliarden Dollar. Leider untergräbt die Regierung mit hohen Exportsteuern auf Agrarprodukte ihre eigene Strategie. Die Landwirtschaft ist Argentiniens stärkste Branche. Ein Sojabohnenproduzent zahlt 33 Prozent Steuern auf Exporte; für nachhaltiges Wachstum braucht es andere Ansätze.

Notwendig ist auch eine Verschlankung des öffentlichen Dienstes. Als die Rohstoffpreise nach der Jahrtausendwende boomten, und selbst danach, wurde dieser Sektor maßlos aufgebläht. Seit Januar 2012 sank die Zahl der in der Privatwirtschaft Beschäftigten um 3,9 Prozent, im öffentlichen Sektor aber stieg sie um fast 25,9 Prozent. Das belastet die Wirtschaft. Auch muss der Staatshaushalt besser austariert werden. Die Regierung plant für 2021 ein Primärdefizit (Haushaltsdefizit ohne Zinszahlungen) von 4,5 Prozent der Wirtschaftsleistung. Das ist weit mehr als die von privaten Gläubigern prognostizierten 0,5 bis 0,9 Prozent. Um Schulden abzubauen, sind aber Primärüberschüsse nötig.


Politische Herausforderungen

Argentinien hat ein paar Stärken zu Beginn des Reformprozesses. Berücksichtigt man argentinische Investitionen im Ausland, so ist das Land ein globaler Nettogläubiger mit einem Finanzvermögen von 121 Milliarden Dollar (Stand März 2020). Im März 2020 übertrafen argentinische Privatinvestitionen im Ausland den Wert, den das Land ausländischen Gläubigern schuldet, um 57 Prozent.

Die Risikoprämie für Argentiniens Staatsschulden ist hoch, aber Privatfirmen bekommen erschwingliche Kredite. Die Kreditgeber schätzen, dass die meisten Gläubiger ihre Schulden pünktlich bedienen. Es gibt erfolgreiche Unternehmer: Argentinien ist Heimat des dynamischsten und wertvollsten Unternehmens Lateinamerikas, des e-Commerce-Giganten Mercado Libre. Nach dem Regierungswechsel im vergangenen Jahr zog sein Gründer, Marcos Galperin, allerdings nach Uruguay.

Andererseits erschwert Argentiniens politische Polarisierung Reformen. Als Vorwahlen im August 2019 zeigten, dass Fernández die Präsidentschaftswahlen im Oktober gewinnen würde, wurde Argentiniens ohnehin schwierige Schuldensituation auf einen Schlag untragbar. Der Peso verlor ein Drittel seines Wertes und börsennotierte Unternehmen die Hälfte ihrer Marktkapitalisierung. Die Risikoprämie auf argentinische Anleihen an den Finanzmärkten stieg von 8 auf 14 Prozent.

Die Regierung unterhöhlt leider immer wieder das Vertrauen von Investoren und Kreditgebern. Ein Beispiel war der gescheiterte Versuch, den bankrotten Soja-Verarbeiter Vincentin zu übernehmen. Ein weiteres war die Einstufung mehrerer Telekommunikationsunternehmen als öffentliche Versorger, um Tarife zu regulieren. Die Regierung versucht zudem, neue Richter und Staatsanwälte zu ernennen und Richter abzusetzen, die sich mit Korrup­tionsfällen befassen, in die Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner involviert ist. Sie ist die ehemalige peronistische Präsidentin und mit Alberto Fernández nicht verwandt.

Solches Taktieren sorgt für Spannungen zu einer Zeit, in der eine gemeinsame Strategie gefragt ist. Damit investiert wird, muss Argentinien im In- und Ausland Vertrauen gewinnen. Die Regierung darf weder Wähler noch Investoren durch schlechte Amtsführung wie etwa Manipulationsversuche in der Justiz irritieren.

Die Volkswirtschaft muss aus eigener Kraft und mit geordnetem Staatshaushalt wieder wachsen. Opfer sind nötig, werden aber nicht reichen. Vertrauen schaffen Regierungen mit klaren Plänen und stimmigen Visionen. Dass es daran mangelt, ist Argentiniens eigentliches Problem.


José Siaba Serrate ist Volkswirt an der Universität von Buenos Aires und der Uni des Zentrums für makroökonomische Studien (UCEMA), einer Privatuniversität in Buenos Aires. Er ist zudem Mitglied des Argentinischen Rates für Internationale Beziehungen (CARI).
josesiaba@hotmail.com

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