Digitale Überwachung

Niemand kann sich entziehen

Die chinesische Führung macht mit ihrer Ankündigung Ernst: Sie führt ein soziales Kreditsystem ein, das Menschen in allen Lebenslagen bewertet und entsprechend belohnt oder bestraft. Die Bewohner der Hauptstadt Peking soll es bereits im kommenden Jahr treffen.
Kameras überwachen den öffentlichen Raum wie hier in Shanghai. Zhong Yang/picture-alliance/dpa Kameras überwachen den öffentlichen Raum wie hier in Shanghai.

Genervt blickt Haifeng auf ihr Smart­phone. Sie sitzt in einem Café in Peking und nippt an ihrem Latte. Das Telefon hat sie neben sich auf den Tisch gelegt. Widerwillig nimmt sie das Gerät in die Hand und tippt auf eine knallrote App. Darin finden sich Videobotschaften und jede Menge Texte. Lesen mag sie die Texte nicht. Sie müsse diese App mehrmals am Tag nutzen, sagt sie. Sie sei schließlich Parteimitglied.

Dabei nutzt Haifeng ihr Smart­phone eigentlich ganz gerne – wie die meisten Chinesen ihrer Generation. Die 25-Jährige schaut sich darauf koreanische Seifenopern an, hat E-Books heruntergeladen und jede Menge Spiele. Am meisten benutzt sie ihr Gerät, um mit ihren Freunden zu chatten, Bilder und Videos auszutauschen.

Nun ist ihr das Smartphone aber lästig geworden. Denn die Führung der Kommunistischen Partei (KP) hat alle ihre Mitglieder angewiesen, diese spezielle App herunterladen. „Xue Xi Qiang Guo“ heißt sie, übersetzt: „Studiere, um China stark zu machen.“ Nach offizieller Lesart handelt es sich um eine Lern-App. „Lerne von Xi“ – das könnten die ersten beiden Silben des Namens auf Chinesisch auch bedeuten, in Anspielung auf Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping. In der App finden sich seine Leitlinien, die Teil der Staats- und Parteiverfassung sind, neue Verordnungen der Partei, aber auch alte Schwarz-Weiß-Filme wie der „Lange Marsch“.

Mit der bloßen Installation der App ist es allerdings keineswegs getan. Parteimitglieder wie Haifeng müssen sie auch nutzen. Die Zeit, die sie auf der App verbringen, wird ihnen in Punkten gutgeschrieben, sogenannten „Lernpunkten“. Wer einen Text mindestens vier Minuten lang liest, bekommt einen Pluspunkt. Ebenso, wer Artikel oder Videos an Freunde und Familie weiterleitet. Auch die Uhrzeit spielt beim Punktesammeln eine Rolle. Eine Nutzung der App morgens vor halb neun, in der Mittagspause oder abends nach 20 Uhr bringt die doppelte Punktzahl – sie soll schließlich nicht die Arbeitszeit beeinträchtigen.

Wer viele Punkte gesammelt hat, kann sie gegen Geschenke oder Vergünstigungen eintauschen. Wer schlecht abschneidet, wird in der Parteizelle an den Pranger gestellt. „Eine niedrige Punktzahl zeigt, dass du kein leidenschaftliches Mitglied bist“, sagt Haifeng. Die App war zeitweilig in China das am meisten heruntergeladene Programm und stellte selbst die unter jungen Leuten derzeit schwer angesagte Social-Media-App Tiktok in den Schatten. „Kein Wunder“, sagt Haifeng. Schließlich hat Chinas KP mehr als 90 Millionen Mitglieder, und alle mussten die App installieren.


Social Scoring

Die Anwendung ist die Probe aufs Exempel für ein umfassendes Überwachungs- und Bewertungssystem, das demnächst für alle Chinesen gelten soll: Social Scoring. Schulden nicht beglichen? Dafür gibt es Punktabzug. Schwarz mit der U-Bahn gefahren? Auch das schlägt negativ zu Buche. Ebenso den Müll vor die Haustür zu stellen, im Parkverbot zu stehen oder das Kind auf der Straße urinieren zu lassen.

Noch hat Chinas Führung das weltweit für Aufsehen sorgende Überwachungssystem nicht landesweit eingeführt. Es wurde bislang lediglich in einigen Regionen getestet. Nun hat auch die Stadtregierung von Peking angekündigt, das Bewertungssystem bis Ende 2020 einzuführen, und Anfang dieses Jahres einen entsprechenden Bewertungskatalog veröffentlicht. Das gesamte Verhalten aller rund 22 Millionen Pekinger soll damit erfasst werden.

Der Bewertungskatalog enthält unter anderem Verkehrsdelikte, Steuersünden, rüpelhaftes Verhalten in der Öffentlichkeit und Rauchen in öffentlichen Räumen. Und da sich in China vieles im Netz abspielt, wird auch das Verhalten in den sozialen Medien, beim Online-Shopping und selbst beim Verfassen von Kurznachrichten erfasst. Datenquellen sind Bewertungen auf Einkaufsportalen oder Beiträge in Online-Netzwerken, aber auch Kranken- und Gerichtsakten. Wenn ein Bürger einen regierungskritischen Kommentar verfasst und an seine Chat-Gruppe versendet, könnte das ebenfalls mit in das Soziale Kreditsystem einfließen – in dem Fall negativ. Anschwärzen ist ausdrücklich erwünscht.


Musterbürger als Ziel

Ziel ist es, Musterbürger im Sinne der kommunistischen Führung zu schaffen. Jeder startet mit 1 000 Punkten. Erreicht man durch Wohlverhalten 1 300 Punkte, wird man mit AAA bewertet und erhält Gutscheine etwa für Bahn- und Flugreisen, kommt günstiger an Kredite heran und wird bei der Vergabe von Kindergarten-, Schul- und Studienplätzen bevorzugt. Wer hingegen unter die Punktzahl von 600 fällt, landet in der schlechtesten Kategorie D und muss mit Nachteilen rechnen.

Über seinen Punktestand kann sich jeder selbst informieren. Aber auch Behörden, Banken, Einkaufsplattformen, Reiseveranstalter und sogar Fluggesellschaften erhalten Auskunft. Niemand soll sich diesem Bewertungssystem entziehen können. Jeder bekommt ein Konto zugewiesen und ist gezwungen, sich mit seiner Sozialversicherungsnummer anzumelden.

Einen Vorgeschmack auf die entstehende Datenkrake gibt es schon: Kürzlich hat das Tourismusministerium bekanntgegeben, dass im vergangenen Jahr mehr als 20 Millionen Menschen Flug- und Bahn­tickets verwehrt wurden, weil die Betroffenen ein zu schlechtes Sozialpunktekonto hatten. Bislang haben allerdings nur private Anbieter die entsprechenden Daten ihrer Kunden gesammelt und weitergegeben.

Besonders Chinas große Internetfirmen wie Alibaba oder Tencent haben fleißig Vorarbeit geleistet. Alibaba, der chinesische Internetgigant, der auf seinen Online-Handelsplattformen Taobao und Tmall mehr Umsatz macht als Amazon, hat Daten von fast 800 Millionen Nutzern gesammelt. Mit seinem Dienst Sesame Credit bietet er seit einiger Zeit ein umfassendes Bewertungssystem, an denen Nutzer freiwillig teilnehmen können. Wie Sesame Credit den Punktestand genau berechnet, gibt Alibaba nicht preis. Bekannt ist aber, dass der Einkauf bestimmter Produkte besser bewertet wird als der anderer und dass es sich lohnt, Freunde mit hoher Punktezahl zu haben. Nach eigenen Angaben stellt das Unternehmen die Daten auf Wunsch Behörden und Banken zur Verfügung. Mit dem Sozialkreditsystem will sich nun auch der Staat dieses Datenschatzes bedienen.

Damit es nicht bei Stichproben bleibt, sondern sich ein möglichst lückenloses Bild über das Verhalten aller Menschen ergibt, fluten die Behörden derzeit das ganze Land mit Überwachungskameras. Rund 170 Millionen Kameras gibt es auf Chinas Straßen bereits, 350 Millionen sollen in den nächsten Jahren dazukommen. Dann kommt eine Überwachungskamera auf jeden dritten Chinesen. Viele davon sind mit  Gesichtserkennungssoftware bestückt.

Ein Besuch bei der Firma Megvii im Nordwesten Pekings macht deutlich, was die Bürger in China demnächst erwartet. Die Firma hat sich auf Kamerasoftware spezialisiert. Und die funktioniert so: Schon am Eingang wird man erfasst. Die Software erkennt: ein Mann. Beim Alter ist sie sich erst noch etwas unschlüssig. Auf dem Bildschirm schwankt die Angabe zwischen 35 und 42. Dann pendelt sich die Zahl bei 38 ein. Volltreffer. Die Software vermisst zudem das Gesicht, erstellt ein Bewegungsprofil und merkt sich spezielle Merkmale wie Leberflecken, die Form der Ohrmuscheln und die Augenfarbe. Erfasst die Kamera die Person ein paar Minuten später das zweite Mal, spuckt die Software alle Daten sofort aus. „Wenn du vor einer unserer Kameras stehst, wissen wir sofort, wer du bist“, sagt Megvii-Mitarbeiterin Ai Jiandan. „Jedes Gesicht hat seine speziellen Merkmale.“


Wenig Widerstand

In sozialen Netzwerken kursieren erste Bilder aus den Pilotstädten, die zeigen, wie die Überwachung künftig laufen könnte: Zu sehen ist, wie in einem Kontrollraum der örtlichen Polizei auf einer digitalen Wand hunderte Aufnahmen von Überwachungskameras einer großen Pekinger Kreuzung zu sehen sind. Auffälligkeiten werden automatisch herangezoomt. Die Gesichtserkennungssoftware gleicht die Personen mit den bereits gespeicherten Daten ab und gibt sie binnen weniger Sekunden preis.

Widerstand gegen dieses Überwachungssystem gibt es nur wenig. Proteste sind in der autoritären Volksrepublik schwierig zu initiieren. Das Bewusstsein für Datenschutz ist bei den meisten Chinesen aber ohnehin gering ausgeprägt – viele misstrauen ihren Mitbürgern mehr als dem Staat. Das Projekt einer „Zivilisierung“ der eigenen Bevölkerung durch die harte Hand der Machthaber stößt durchaus auf Beifall.

Haifeng hingegen sieht die Entwicklung kritisch: „Es sind in letzter Zeit doch zu viele Kameras geworden“, sagt sie und blickt sich im Café um. Erst am Ende des Gesprächs sagt sie, dass sie gar nicht Haifeng heißt. Ihren richtigen Namen möchte sie nicht nennen. Für das, was sie gesagt habe, könne sie schließlich Minuspunkte erhalten.


Felix Lee arbeitet für die tageszeitung (taz) und war bis vor kurzem ihr Chinakorrespondent.
felix.lee@taz.de

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